© 2021 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 019/21 Zur Vereinbarkeit einer Besteuerung des Spieleinsatzes auf Automaten und Onlinepokerspiele mit dem Europäischen Beihilfenrecht Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 019/21 Seite 2 Zur Vereinbarkeit einer Besteuerung des Spieleinsatzes auf Automaten und Onlinepokerspiele mit dem Europäischen Beihilfenrecht Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 019/21 Abschluss der Arbeit: 29.03.2021 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 019/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung und Hintergrund 4 2. Überblick über das EU-Beihilfenrecht 5 2.1. Materielles EU-Beihilfenrecht 5 2.2. Formelles EU-Beihilfenrecht 6 2.2.1. Vorabnotifizierung 6 2.2.2. Freistellung von der Notifizierungspflicht und ex-post-Kontrolle 6 3. Beihilferechtliche Bewertung 7 3.1. Die Tatbestandsmerkmale des Art. 107 Abs. 1 AEUV 7 3.2. Begünstigung 7 3.3. Selektiver Vorteil 8 4. Notifizierung (Art. 108 Abs. 3 AEUV) 12 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 019/21 Seite 4 1. Fragestellung und Hintergrund An den Fachbereich wurden folgende Fragen gerichtet: Würde, sofern die Besteuerung des Spieleinsatzes auf Automaten- und Onlinepokerpiele mit 5,3% umgesetzt wird, die niedrigere gesetzliche Bruttospielertrags-Besteuerung terrestrischer Spielbanken und Spielhallen als selektive Begünstigung den Beihilfentatbestand des Art. 107 Abs. 1 AEUV erfüllen? Müsste die Kommission über eine solche gesetzlich privilegierte Besteuerung terrestrischer Spielbanken und Spielhallen gemäß Art. 108 Abs. 3 AEUV unterrichtet werden, damit eine solche Regelung ggf. als vereinbar mit dem Binnenmarkt erklärt werden kann? Nachdem sich die Bundesländer auf einen Staatsvertrag zur Neuregulierung des Glücksspielwesens in Deutschland1 verständigt hatten, wird die Besteuerung von Online-Glücksspielen – virtuellen Automatenspielen, Online-Poker und Online-Casinospielen – beraten. Ein Gesetzentwurf zur Änderung des Rennwett- und Lotteriegesetzes und der Ausführungsbestimmungen zum Rennwett- und Lotteriegesetz (nachfolgend: RennwLottG-E) sieht für virtuelle Automatenspiele2 und Pokerspiele3 einen Steuersatz von jeweils 5,3% vor. Bemessungsgrundlage hierfür soll der geleistete Spieleinsatz abzüglich der Virtuellen Automatensteuer4 bzw. der Spieleinsatz abzüglich der Online-Pokersteuer5 sein. Demgegenüber sehen die Landesgesetze bei terrestrischen Spielbanken und Spielhallen eine Besteuerung des Bruttospielertrags vor, bei der die Bemessungsgrundlage die Differenz zwischen den Wetteinsätzen und der Auszahlungen an die Spieler bildet.6 Die Besteuerung erfolgte nach 1 Staatsvertrag zur Neuregulierung des Glücksspielwesens in Deutschland (Glücksspielstaatsvertrag 2021 – GlüStV 2021). 2 Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Rennwett- und Lotteriegesetzes und der Ausführungsbestimmungen zum Rennwett- und Lotteriegesetz (RennwLottG-E) § 38. Die Begründung des Gesetzentwurfs verweist auf Seite 40 darauf, dass die eingefügten Steuervorschriften für neue Glücksspielarten nur die nach dem Glücksspielstaatsvertrag neu zugelassenen online verfügbaren Glücksspiele des virtuellen Automatenspiels und Online- Poker erfassen. 3 § 48 RennwLottG-E. 4 § 37 RennwLottG-E. 5 § 47 RennwLottG-E. 6 Vgl. z.B. § 36 Glückspielgesetz SH v. 20.10.2011, SH GVO 2011 Nr. 17, 279; auch Art. 5 Gesetz über Spielbanken im Freistaat Bayern v. 26.7.1995, GVBl. S. 350, BayRS 2187-1-I sieht für Spielbanken eine Spielbankabgabe nach dem Bruttospielertrag der jeweiligen Spielbank vor. Differenzierter wird die Besteuerung von Spielbanken und Spielhallen unten auf Seite 10 dargestellt. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 019/21 Seite 5 dem RennwLottG-E für virtuelle Spielangebote hiervon abweichend nicht nach dem Gewinn des Anbieters, sondern wäre nach dem reinen Spieleinsatz zu bemessen.7 Nach einem kurzen Abriss der Grundzüge des EU-Beihilfenrechts (2.) wird untersucht, ob die in dem RennwLottG-E vorgesehene abweichende Besteuerung von Online-Glücksspielen gegenüber der Besteuerung von terrestrischen Spielbanken und Spielhallen als verbotene Beihilfe nach Art. 107 Abs. 1 AEUV zu werten ist (3) und ob die Kommission hinsichtlich der Besteuerung terrestrischer Spielbanken und Spielhallen nach Art. 108 Abs. 3 AEUV zu unterrichten ist (4). 2. Überblick über das EU-Beihilfenrecht Die Regelungen über staatliche Beihilfen in den Art. 107-109 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sind Teil der unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln. Das Primärrecht stellt sowohl materielle als auch formelle Voraussetzungen für die unionsrechtskonforme Durchführung von Beihilfen durch die Mitgliedstaaten auf. 2.1. Materielles EU-Beihilfenrecht Den Kern des EU-Beihilfenrechts bildet das an die Mitgliedstaaten gerichtete grundsätzliche Verbot staatlicher Beihilfen. Nach Art. 107 Abs. 1 AEUV sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Binnenmarkt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen. Fehlt eines dieser Merkmale, so liegt keine Beihilfe vor und die Vorgaben der Art. 107 ff. AEUV finden keine Anwendung.8 Sind die Merkmale des Art. 107 Abs. 1 AEUV hingegen erfüllt, so ist dies nicht gleichbedeutend mit einer Unionsrechtswidrigkeit der betreffenden nationalen Maßnahme. Denn das in dieser Vertragsvorschrift geregelte Beihilfeverbot gilt nicht absolut, sondern nur insoweit, als in den Verträgen nichts anderes bestimmt ist. Zu diesen anderen Bestimmungen zählen Art. 107 Abs. 2, 3 AEUV, unter deren Voraussetzungen Beihilfen als mit dem Binnenmarkt vereinbar gelten bzw. als mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt werden können. 7 Vgl. Kirchhof, Neue Steuern auf Online-Glücksspiele – verfassungsrechtliche Vorgaben für die Wahl der Bemessungsgrundlage , Gutachten im Auftrag des Deutschen Sportwettenverbands e. V. und des Deutschen Online Casinoverbands e. V. vom 25.1.2021, S. 3. 8 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-280/00, Rn. 74 (Altmark Trans). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 019/21 Seite 6 2.2. Formelles EU-Beihilfenrecht Der Vollzug des EU-Beihilferechts obliegt auf Grundlage von Art. 108 AEUV der Europäischen Kommission.9 In verfahrenstechnischer Hinsicht sind dabei die primärrechtlich geregelte ex-ante- Prüfung und die sekundärrechtlich geprägte ex-post-Kontrolle zu unterscheiden. 2.2.1. Vorabnotifizierung Nach Art. 108 Abs. 2 und 3 AEUV sowie der sekundärrechtlichen Konkretisierung dieser Bestimmungen in Gestalt der Beihilfenverfahrensordnung10 sind mitgliedstaatliche Vorhaben zum einen vorab (präventiv) zu überprüfen. Verfahrensrechtlicher Ausgangspunkt ist hierbei die Pflicht der Mitgliedstaaten, Beihilfen vor ihrer Einführung bei der Kommission anzumelden (Notifizierungspflicht , vgl. Art. 108 Abs. 3 S. 1 AEUV11). Diese prüft sodann, ob eine Beihilfe im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV vorliegt und – wenn das der Fall ist – ob sie gerechtfertigt werden kann.12 Bis zum Abschluss des Verfahrens darf der betreffende Mitgliedstaat die Beihilfe nicht durchführen (sog. Durchführungsverbot, vgl. Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV13). Verstöße hiergegen können zur Aussetzung oder zur vorläufigen Rückforderung bereits gewährter Beihilfen führen, und zwar unabhängig von der (noch festzustellenden) materiellen Rechtmäßigkeit der betreffenden Maßnahme .14 2.2.2. Freistellung von der Notifizierungspflicht und ex-post-Kontrolle Neben der primärrechtlich vorgegebenen (präventiven) ex-ante Kontrolle eröffnet das Primärrecht die Möglichkeit, Beihilfen auch ohne vorherige Anmeldung und Kommissionsüberprüfung zu gewähren, soweit bestimmte vorab bekannte materielle und formale Anforderungen eingehalten werden.15 Diese Anforderungen ergeben sich v. a. aus sog. Freistellungsverordnungen, die die 9 Zu den wenigen, zum Teil auf Ausnahmesituationen beschränkten Kompetenzen des Rates im EU-Beihilfenrecht nach Art. 107 Abs. 3 lit. e, Art. 108 Abs. 2 UAbs. 3 sowie Art. 109 AEUV vgl. Frenz, Handbuch Europarecht , Band 3: Beihilfe- und Vergaberecht, 2007, Rn. 1224 ff. 10 Verordnung (EU) Nr. 2015/1589 des Rates vom 13. Juli 2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 AEUV (Beihilfe-VerfO), ABl. 2015 Nr. L 248/9. 11 Vgl. auch Art. 2 Abs. 1 Beihilfe-VerfO (Fn. 10). 12 Vgl. auch Art. 4, 6, 7 Beihilfe-VerfO (Fn. 10). 13 Vgl. auch Art. 3 Beihilfe-VerfO (Fn. 10). 14 Vgl. Art. 13 Beihilfe-VerfO (Fn. 10). Ist eine Beihilfe materiell nicht rechtfertigungsfähig, ist sie endgültig zurückzufordern , vgl. Art. 16 Beihilfe-VerfO (Fn. 10). 15 Dieser Bereich des Beihilferechts wurde im Zuge der 2014 durchgeführten Beihilferechtsreform („State Aid Modernisation “) ausgebaut, vgl. Soltész, Das neue europäische Beihilferecht, NJW 2014, S. 3128 (3130). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 019/21 Seite 7 Kommission u. a. auf Grundlage von Art. 108 Abs. 4 AEUV in Verbindung mit einer Ermächtigungsverordnung des Rates auf Grundlage des Art. 109 AEUV erlassen kann.16 Bei Einhaltung der jeweiligen Vorgaben werden die Mitgliedstaaten von der Pflicht zur (vorherigen) Notifizierung des Beihilfevorhabens und seiner Vorab-Kontrolle nach Art. 108 Abs. 2 und 3 AEUV freigestellt. Die Kommission kann die ihr gleichwohl anzuzeigende Gewährung solcher Beihilfen jedoch nachträglich kontrollieren. Die derzeit geltende Allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung (AGVO) fasst verschiedene Freistellungstatbestände zusammen.17 Diese gilt allerdings nur für sog. transparente Beihilfen, d. h. (Zins-)Zuschüsse, Darlehen, Bürgschaften, rückzahlbare Vorschüsse und Steuererleichterungen. 3. Beihilferechtliche Bewertung 3.1. Die Tatbestandsmerkmale des Art. 107 Abs. 1 AEUV Eine vom RennwLottG-E abweichende Besteuerung von terrestrischen Spielbanken und Spielhallen würde als Beihilfe i.S.d. Art. 107 Abs. 1 AEUV zu werten sein, wenn hierdurch alle Merkmale des dort definierten Beihilfetatbestandes erfüllt wären. Für den Beihilfebegriff kennzeichnend ist neben einer aus staatlichen Mitteln gewährten Begünstigung die Selektivität, d.h. die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige sowie die hierdurch hervorgerufene Wettbewerbsverfälschung und Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels.18 3.2. Begünstigung Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist der Begriff der Beihilfe […] weiter als der Begriff der Subventionen. [Dieser]…erfasst auch Maßnahmen, die in verschiedener Form die Belastungen mindern, welche ein Unternehmen normaler Weise zu tragen hat.19 16 Bei der Verordnung des Rates auf Grundlage von Art. 109 AEUV handelt es sich um die Verordnung (EU) 2015/1588 des Rates vom 13. Juli 2015 über die Anwendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf bestimmte Gruppen horizontaler Beihilfen, ABl. 2015 Nr. L 248/1. 17 Siehe hierzu Verordnung (EU) Nr. 651/2014 der Kommission vom 17. Juni 2014 zur Feststellung der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Binnenmarkt in Anwendung der Artikel 107 und 108 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, (ABl. 2014 Nr. L 187/1), letzte konsolidierte Fassung vom 7.7.2020. 18 Dazu näher Derksen, EuZW 2020, S. 919 m.w.N. 19 EuGH, Urt. v. 23.2.1961, Rs. 30/59 (De Gezamenlijke Steenkolenmijnen in Limburg/Hohe Behörde) Rn. 3, 43; Urt. v. 15.3.1994, Rs. C-387/92 (Banco de Crédito) Rn. 13; Urt. v. 19.5.1999, Rs. C-6/97 (Italienische Republik /Kommission) Rn. 15 f.; EuG, Urt. v. 7.3.2012, Rs. T-210/02 RENV (British Aggregates Association/Kommission ) Rn. 46. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 019/21 Seite 8 Das Beihilferecht findet auch für Bereiche Anwendung, die unionsrechtlich nicht harmonisiert sind und für die die Mitgliedstaaten alleinige Ausgestaltungskompetenz – wie für das System der direkten Besteuerung – haben.20 Eine steuerliche Maßnahme gilt als eine beihilferelevante Begünstigung, wenn sie bei einem Empfänger Lasten verringert, die dieser sonst zu tragen hat. Eine solche als beihilferechtliche Begünstigung geltende Minderung der Steuerlast eines Unternehmens kann in unterschiedlicher Form erfolgen: - durch Minderung der Steuerbemessungsgrundlage (besonderer Steuerabzug, außergewöhnliche oder beschleunigte Abschreibung, Aufnahme von Rücklagen in die Bilanz usw.); - durch vollständige oder teilweise Ermäßigung des Steuerbetrags (Steuerbefreiung, Steuergutschrift usw.); - durch Zahlungsaufschub, Aufhebung der Steuerschuld oder außergewöhnliche Vereinbarung über die Abzahlung der Steuerschuld in Raten.21 3.3. Selektiver Vorteil Um als staatliche Beihilfe gelten zu können muss eine Maßnahme selektiv sein. Dies setzt voraus, das eine nationale Maßnahme im Rahmen einer konkreten rechtlichen Regelung geeignet ist, „bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige“ gegenüber anderen Unternehmen oder Produktionszweigen zu begünstigen, die sich im Hinblick auf das mit der betreffenden Regelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden und somit eine unterschiedliche Behandlung erfahren, die der Sache nach als diskriminierend eingestuft werden kann.22 In ständiger Rechtsprechung23 soll die materielle Selektivität einer steuerlichen Regelung mit Hilfe eines Drei-Stufen-Tests festgestellt werden: - Zunächst soll die im betreffenden Mitgliedstaat geltende allgemeine oder „normale“ Regelung – das Bezugssystem – ermittelt werden. - In einem zweiten Schritt ist mit Blick auf die allgemeine bzw. „normale“ Steuerregelung zu beurteilen und festzustellen, ob ein mit der in Frage stehenden steuerlichen Regelung 20 EuGH, Urt. v. 16.3.2021, Rs. C-562/2019 (Kommission/Polen) Rn. 26; Urt. v. 22.6.2006, verb. Rs. C-182/03 u. C. 217/03 (Belgien/Kommission) Rn. 81. 21 Mitteilung der Kommission über die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen auf Maßnahmen im Bereich der direkten Unternehmenssteuerung Ziff. 9, Abl. C 374/3. 22 EuGH, Urt. v. 16.3.2021, Rs. C-562/19 P (Kommission/Polen) Rn. 28 (Hervorhebung im Original). 23 EuGH, Urt. v. 16.3.2021, Rs. C-596/19 P (Kommission/Ungarn) Rn. 36; Urt. v. 18.7.2013, Rs. C-6/12 (P Oy) Rn. 19; Urt. v. 8.9.2011, verb. Rs. C-78 bis C-80/08 (Paint Graphos) Rn. 49, 64. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 019/21 Seite 9 gewährter Vorteil selektiv sein könnte. Dies soll der Fall sein, wenn die steuerliche Maßnahme von diesem normalen System abweicht, indem Unterschiede gemacht werden zwischen Wirtschaftsbeteiligten, die im Lichte des mit dieser Regelung verfolgten Ziels in einer vergleichbaren sachlichen und rechtlichen Lage sind. - Im Falle einer Abweichung ist in einem dritten Schritt zu prüfen, ob sie sich aus der Natur oder dem allgemeinen Aufbau des Steuersystems ergibt, zu dem sie gehört, und daher durch die Natur oder den inneren Aufbau des Systems gerechtfertigt sein könnte. In diesem Zusammenhang muss der Mitgliedstaat nachweisen, dass sich die ungleiche steuerliche Behandlung unmittelbar aus den Grund- oder Leitprinzipien dieses Systems ergibt.24 Zur Feststellung der Selektivität einer steuerlichen Maßnahme ist zunächst ihr Bezugssystem zu ermitteln. Bei Steuern setzt sich das Bezugssystem aus Elementen wie die Steuerbemessungsgrundlage, den Steuerpflichtigen, den Steuertatbestand und die Steuersätze zusammen.25 Die Bestimmung dieser Indikatoren sowie die Verteilung der Steuerbelastung auf die unterschiedlichen Produktionsfaktoren und Wirtschaftssektoren unterliegt im nicht harmonisierten Bereich der Steuerzuständigkeit der Mitgliedstaaten.26 Das jeweilige steuerliche Bezugssystem folgt nicht aus strukturellen Vorgaben, die sich aus dem EU-Beihilferecht ableiten ließen, sondern ergibt sich – mit Blick auf die mitgliedstaatliche Steuerhoheit – aus dem Referenzrahmen der mitgliedstaatlichen Steuerrechtsordnung. Die beihilferechtliche Prüfung einer steuerrechtlichen Regelung beschränkt sich daher auf die innere Kohärenz der nationalen Besteuerung.27 Referenzrahmen für die Besteuerung kann ein umfassendes Regelwerk sein. Als solcher können aber auch eigenständige Zweckabgaben wie Abgaben auf bestimmte Produkte oder Tätigkeiten in Betracht kommen, die nicht Teil eines umfassenderen Steuersystems sind. Bezugssystem ist in diesem Fall im Grundsatz die Abgabe selbst.28 Für die vorliegend untersuchte Frage, ob die im RennwLottG-E vorgesehene Bruttospielertrags- Besteuerung für virtuelle Automatenspiele und Pokerspiele zu einer beihilferelevanten selektiven 24 Vgl. dazu die Darstellung dieses Verfahrens in der Beihilfeentscheidung der Kommission SA.44944 (2019/C ex 2016/FC) – Steuerliche Behandlung von Spielbanken in Deutschland und Staatliche Beihilfe SA.53552 (2019/C ex 2019/FC) – Mutmaßliche Garantie für Spielbankunternehmer in Deutschland (Wirtschaftlichkeitsgarantie ) – Deutschland Rn. 74. 25 Bekanntmachung der Kommission zum Begriff der staatlichen Beihilfe im Sinne des Artikels 107 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (nachfolgend: Beihilfemitteilung), ABl. C 262/1 vom 19. Juli 2016 Rn. 134. 26 EuGH, Urt. vom 26.4.2018, Rs. C-233/16 (ANGED) Rn. 50. 27 GAn Kokott, Schlussanträge vom 15.10.2020 in der Rs. C-562/19 P (Kommission/Polen) Rn. 44 ff. 28 EuG, Urt. v. 7.3.2012, Rs. T-210/02 RENV (British Aggregates Association/Kommission) Rn. 49 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 019/21 Seite 10 steuerlichen Begünstigung terrestrischer Spielbanken und Spielhallen führte, müsste zunächst das dafür maßgebende steuerliche Bezugssystem ermittelt werden. Als Bezugssystem, die „normalen“ Besteuerungsregeln von Glückspielen, käme neben dem allgemeinen Steuersystem in Gänze die Besteuerungsregeln für Glückspiele in den Bundesländern und die im RennwLottG-E für virtuelle Spielangebote vorgesehene Besteuerung in Betracht. In dem derzeit schwebenden Beihilfeverfahren SA.44944 zur steuerlichen Behandlung von Spielbanken in Deutschland will die Kommission einen selektiven Vorteil für Spielbankunternehmer davon abhängig machen, ob diese infolge der Spielbankabgabe steuerlich geringer belastet würden als bei Geltung der ansonsten allgemein geltenden allgemeinen steuerlichen Regelungen. Die auf Glücksspielanbieter allgemein anwendbaren Steuern, also die Körperschaftsteuer/Einkommensteuer , die Gewerbesteuer und ggf. die Vergnügungssteuer, bilden daher den Bezugsrahmen , auf den bei der Beurteilung der Selektivität der besonderen Steuerregelung(en) für Spielbankunternehmer abzustellen ist.29 Bei einem solchen Ansatz wäre das Bezugssystem bei terrestrischen Spielbanken und Spielhallen , für die vorstehende Einordnung der Spielbanken durch die Kommission in ähnlicher Weise anzunehmen wäre, die allgemeinen steuerlichen Regelungen, so dass diese durch die diese ersetzenden einschlägigen Gesetze der Bundesländer möglicherweise bereits selektiv begünstigt wären . Die im Vergleich zu terrestrischen Spielangeboten im RennwLottG-E vorgesehene ungünstigere Besteuerung von Onlinespielen käme keine eigenständige Bedeutung zu, da auch hierfür die allgemeinen steuerlichen Regelungen der Referenzrahmen wäre. Für das Beihilfemerkmal der Selektivität wäre daher die unterschiedliche Besteuerung von terrestrischen und Online-Glückspielen nach diesem Ansatz irrelevant, soweit diese sich aus dem Vergleich der Besteuerung von Glückspielen durch Landesrecht mit den im RennwLottG-E vorgesehenen steuerlichen Regelungen ergäbe. Die Aufteilung der jeweiligen Besteuerungsgrundlagen in zwei getrennte Regelwerke steht der Annahme eines gemeinsamen Bezugssystems zwar noch nicht zwingend entgegen, da die Feststellung der Selektivität einer Besteuerung in ständiger Rechtsprechung unabhängig von der von einem Mitgliedstaat verwandten Regelungstechnik ist, vielmehr auf die Wirkung einer staatlichen Maßnahme abzustellen sei.30 Ein eigenes Referenzsystem der Besteuerung von Glücksspielen, das sich aus einer Vielzahl von Gestaltungsformen der in Landesgesetzen und im Rennwett- und Lotteriegesetz durch den Bund geregelten Besteuerung von Spielen ableiten ließe, ist allerdings nicht auszumachen. Für die dem RennwLottG unterfallenden Sportwetten und Lotterien ist eine Besteuerung des Wetteinsatzes 29 Kommission, Staatliche Beihilfe SA.44944 (2019/C ex 2016/FC) – Steuerliche Behandlung von Spielbanken in Deutschland und Staatliche Beihilfe SA.53552 (2019/C ex 2019/FC) Rn. 103, 107; kritisch dazu Gosch/Offerhaus /Heide, DStR 2020, S. 2457 (2461). 30 EuGH, Urt. v. 15.11.2011, verb. Rs. C-106/09 P u. C-107/09 P (Gibraltar) Rn. 87 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 019/21 Seite 11 oder des Losnennwertes vorgesehen, in anderen Bereichen des Glücksspiels werden weitere Abgaben erhoben wie die Spielbankabgabe31, örtliche Aufwandsteuern und die Umsatzsteuer, wobei Gewinnspiele teilweise wiederum von der Umsatzsteuer und anderen Steuern32 befreit sind bzw. diese auf andere Steuern angerechnet werden.33 Die öffentlichen Spielbanken unterliegen einer Besteuerung mit der Spielbankabgabe, die in jedem Bundesland gesondert gesetzlich geregelt wird. Die Höhe der Spielbankabgabe ist in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich festgelegt und kann bis zu 80 Prozent des Bruttospielertrags erreichen. Aufgrund dieser steuerlichen Belastung ist die öffentliche Spielbank von Steuern, die bei Anwendung der allgemeinen Besteuerungsgrundsätze anfallen würden, befreit.34 Gewerbliche Spielhallenbetreiber unterliegen demgegenüber der Besteuerung nach den allgemeinen Grundsätzen.35 Ein gemeinsames, der Besteuerung von terrestrischen Spielbanken und Spielhallen einerseits und virtuelle Automatenspiele und Pokerspiele andererseits vorausgehendes umfassendes steuerliches Bezugssystem oder ein solches, das diese umfasste, ist mithin nicht ersichtlich. Vor diesem Hintergrund ist nicht erkennbar, dass die bei Online-Spielangeboten vorgesehene Bemessungsgrundlage der Besteuerung ein Referenzsystem für die Besteuerung von Glückspielen insgesamt bildet. Insoweit ist diese Art der Besteuerung kein Vergleichsmaßstab für die Besteuerung des Bruttospielertrags bei terrestrischen Spielbanken und Spielhallen, bei der als Bemessungsgrundlage die Differenz zwischen Wetteinsätzen und der Auszahlungen an die Spieler anzusehen wäre, und damit kein Referenzsystem, aus dem sich eine selektive steuerliche Begünstigung terrestrischer Spielbanken und Spielhallen folgern ließe. 31 Dazu näher Englisch, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Aufl. 2020, D. Rennwett- und Lotteriesteuer, Ziff. 18.8. 32 So ist z.B. in Rheinland-Pfalz die Erhebung der Gewerbesteuer und der Vergnügungssteuer beim Betrieb einer Spielbank neben der Spielbankabgabe grundsätzlich ausgeschlossen; vgl. Drysch, Die Praxis der Kommunalverwaltung , Die Vergnügungssteuer in Rheinland-Pfalz KAG § 5 Rn. 421 ff. (Stand: 2020). 33 Vgl. Kirchhof, Neue Steuern auf Online-Glücksspiele – verfassungsrechtliche Vorgaben für die Wahl der Bemessungsgrundlage , Gutachten vom 25.1.2021, S. 2 f.; dazu auch Kommission, Staatliche Beihilfe SA.44944 (2019/C ex 2016/FC) – Steuerliche Behandlung von Spielbanken in Deutschland und Staatliche Beihilfe SA.53552 (2019/C ex 2019/FC) Rn. 85 ff, 107. 34 Auskunft des Bundesministeriums der Finanzen. Grundlage der Besteuerung der Spielbanken ist der Bruttospielertrag . Von ihm wird die Spielbankabgabe als Landessteuer erhoben (idR 80%); mit diesem Abzug sind sämtliche Bundes- und Landessteuern und idR auch Gemeindesteuern abgegolten. Durch Art. 2 Nr. 1 des Gesetzes zur Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen ist die bis dahin geltende Umsatzsteuerbefreiung aufgehoben worden. Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes am 6. 5. 2006 unterliegen die Umsätze mithin der Umsatzsteuer. Im Hinblick auf die dadurch eingetretene Doppelbelastung findet eine Anrechnung der Umsatzsteuer auf die Spielbankabgabe statt; vgl. Mayer, in: Staudinger BGB, Vorbm. zu §§ 762 – 764 BGB (2015) Rn. 12a. 35 Nach Auskunft des Bundesministeriums der Finanzen. Zur Besteuerung von Spielhallen vgl. näher Dziadkowski, BB 2015, S. 3094 (3095). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 019/21 Seite 12 4. Notifizierung (Art. 108 Abs. 3 AEUV) Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, Beihilfen vor ihrer Einführung bei der Kommission anzumelden (Art. 108 Abs. 3 S. 1 AEUV36). Da – nach hiesiger Einschätzung – die Besteuerung terrestrischer Spielbanken und Spielhallen, soweit eine Privilegierung dieser Besteuerung sich aus einem Vergleich mit der Besteuerung des Spieleinsatzes auf Automaten- und Onlinepokerspiele ergäbe, nicht als selektive Begünstigung gelten kann und somit nicht den Beihilfetatbestand nach Art. 107 Abs. 1 AEUV erfüllt, müsste die Kommission über eine sich aus diesem Vergleich ergebende gesetzlich privilegierte Besteuerung terrestrischer Spielbanken und Spielhallen nicht unterrichtet werden. In einem schwebenden Beihilfeverfahren untersucht die Kommission die Frage, ob eine Beihilferelevanz der steuerlichen Behandlung von Spielbanken in Deutschland daraus folgt, dass Spielbanken infolge der Spielbankabgabe steuerlich geringer belastet würden als bei einer Besteuerung auf Grundlage der ansonsten geltenden allgemeinen steuerlichen Regelungen .37 - Fachbereich Europa - 36 Vgl. auch Art. 2 Abs. 1 Beihilfe-VerfO. 37 Kommission, Staatliche Beihilfe SA.44944 (2019/C ex 2016/FC) – Steuerliche Behandlung von Spielbanken in Deutschland und Staatliche Beihilfe SA.53552 (2019/C ex 2019/FC).