Deutscher Bundestag Grundlegende Rechtsprechung des EuGH im Bereich der Wirtschaftsund Sozialpolitik Auswahl Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa PE 6 – 3000 – 18/13 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 18/13 Seite 2 Grundlegende Rechtsprechung des EuGH im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik Auswahl Aktenzeichen: PE 6 – 3000 – 18/13 Abschluss der Arbeit: 20.02.2013 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Hausleitung Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 18/13 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Grundlegende Rechtsprechung des EuGH im Bereich der Wirtschaftspolitik 4 2.1. Rahmen der Europäischen Wirtschaftspolitik 4 2.2. Wirtschaftspolitik i.e.S. (Art. 119-126 AEUV) 4 2.3. Binnenmarkt und Grundfreiheiten 6 2.4. Wettbewerbspolitik (Art. 101-106 AEUV) 8 2.4.1. Kartellrecht 8 2.4.2. Beihilfenrecht 9 3. Grundlegende Rechtsprechung des EuGH im Bereich der Sozialpolitik 10 3.1. Rahmen der Europäischen Sozialpolitik 11 3.1.1. Sozialpolitik i.e.S. 12 3.1.2. Gleichbehandlung von Männer und Frauen 12 3.1.3. Verbot der Altersdiskriminierung 15 3.1.4. Unionsbürgerschaft und nationales Sozialrecht 15 3.1.5. Sozialpolitik und Grundfreiheiten 16 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 18/13 Seite 4 1. Einleitung Der Gerichtshof der Europäischen Union ist das Rechtsprechungsorgan der Europäischen Union. Seine Aufgabe liegt gemäß Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV in der Sicherung und Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge. Er gewährleistet, dass das Unionsrecht einheitlich ausgelegt und angewendet wird. Neben der durch den Gerichtshof der EU ausgeübten Rechtskontrolle ist seine Befugnis zur richterlichen Rechtsfortbildung, welcher das Unionsrecht aufgrund seiner Lückenhaftigkeit in hohem Maß bedarf1, von großer Bedeutung. Gegenstand dieser Ausarbeitung ist die Beantwortung der Frage, welche grundlegende Rechtsprechung des EuGH es im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik gibt. Dafür wird der Rahmen der europäischen Wirtschaft- und Sozialpolitik kurz umrissen, um dann - ohne den Anspruch auf Vollständigkeit - wesentliche und interessante Entscheidungen darzustellen. 2. Grundlegende Rechtsprechung des EuGH im Bereich der Wirtschaftspolitik Unter der Wirtschaftspolitik versteht man gemeinhin die Gesamtheit der Maßnahmen, mit denen der Staat regelnd und gestaltend in die Wirtschaft eingreift. Im Rahmen der Wirtschaftspolitik werden die Regeln festgelegt, innerhalb derer die weitgehend privat organisierte Wirtschaft sich mit all ihren verschiedenen Akteuren entfalten kann, um so Wachstum und Beschäftigung zu erhöhen. 2.1. Rahmen der Europäischen Wirtschaftspolitik Gemäß Art. 3 Abs. 3 und Abs. 4 EUV errichtet die Union einen Binnenmarkt und eine Wirtschafts - und Währungsunion. Hierzu verfolgt sie eine Wirtschaftspolitik, die auf einer engen Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und dem Binnenmarkt beruht und dem Grundsatz einer offenen sozialen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist (Art. 119 AEUV). Entsprechend lassen sich nicht nur die unter Titel VIII, Kapitel 1 (Wirtschaftspolitik ) genannten Vorschriften unter den Begriff der Wirtschaftspolitik fassen. Vielmehr zählen auch die Binnenmarktvorschriften, die Regelungen zu den Grundfreiheiten (Art. 26 ff. AEUV) und die Wettbewerbsregeln in Art. 101ff. AEUV zu den Regelungen der Wirtschaftspolitik im weiteren Sinn. Eine Darstellung der Rechtsprechung des EuGH zu all diesen Bereichen (Grundfreiheiten, Wettbewerbsregeln , Wirtschaftspolitik im engeren Sinn) würden den Umfang dieser Ausarbeitung sprengen. Es werden daher einige wesentliche Entscheidungen ausgewählt. 2.2. Wirtschaftspolitik i.e.S. (Art. 119-126 AEUV) Die zentralen primärrechtlichen Bestimmungen für die europäische Wirtschaftspolitik im engeren Sinn finden sich in Art. 120-126 AEUV. Zu Grunde liegt die Erkenntnis, das für die Verwirklichung des Binnenmarkte und der Wirtschafts- und Währungsunions (WWU) die wirksame Koordinierung ein unentbehrliches Element ist, da ein erhebliches Auseinanderlaufen der Konjunktur in den Mitgliedstaaten die mit ihr verbundenen Ziele gefährden würde. Dies hat nicht zuletzt 1 Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 8. Auflage, 2012, S. 208, Rn. 469. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 18/13 Seite 5 die Wirtschafts- und Finanzkrise der letzten Jahre gezeigt. Für die Gestaltung sind weitgehend die Mitgliedstaaten zuständig (vgl. Art. 5 AEUV). Sie richten ihre Wirtschaftspolitik gemäß Art. 120 S. 1 AEUV so aus, dass sie im Rahmen der vom Rat nach Art. 121 Abs. 2 AEUV beschlossenen Grundzüge zur Verwirklichung der Ziele der Union aus Art. 3 EUV beitragen. Der Kapitel Wirtschaftspolitik enthält außerdem Vorschriften, die den Mitgliedstaaten aufgeben, bei der Durchführung ihrer Wirtschaftspolitik übermäßige öffentliche Defizite zu vermeiden (Art. 126 AEUV) und es der Union und den Mitgliedstaaten grundsätzlich verbieten, die Verbindlichkeiten anderer Mitgliedstaaten zu übernehmen. Angesichts der mitgliedstaatlichen Zuständigkeit gibt es im Bereich der Wirtschaftspolitik i.e.S. nur wenig Rechtsprechung des EuGH. Im Zusammenhang mit den Maßnahmen in Reaktion auf die Wirtschafts- und Finanzkrise hatte der EuGH nun aber in der Rechtssache Pringle ./. Irland (C-370/12)2 u.a. über Auslegung und Anwendung der Art. 119ff. AEUV zu entscheiden. Er kam zu dem Ergebnis, dass Abschluss und Ratifikation des Vertrages zur Errichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) nicht gegen Unionsrecht, insbesondere nicht gegen die Nichtbeistandsklausel gemäß Art. 125 AEUV („No-Bailout-Klausel“) verstoßen.3 Nach dieser im Titel Wirtschaftspolitik geregelten Vorschrift besteht ein grundlegendes Verbot für Union und Mitgliedstaaten zur Übernahme von Verbindlichkeiten anderer Mitgliedstaaten. Art. 122 Abs. 2 AEUV beinhaltet daneben eine Zuständigkeit der Union, einem Mitgliedstaat im Falle von „Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen … finanziellen Beistand“ zu leisten. Auch wenn das systematische Verhältnis der beiden Vorschriften eher gegen eine Vereinbarkeit des ESM mit der „No-Bailout-Klausel“ spricht4, kam der EuGH im Wege der teleologischen Auslegung zu dem Ergebnis, dass Art. 125 AEUV nicht verletzt sei: Art. 122 und 125 AEUV stünden nicht in einem Regel-Ausnahme-Verhältnis.5 Ziel des Art. 125 sei allein, der Union und den Mitgliedstaaten solche Formen des finanziellen Beistands zu untersagen, die „zu einer Beeinträchtigung des Anreizes für Empfängermitgliedstaaten führen würden, eine solide Haushaltspolitik zu betreiben“6 Der ESM verletze dieses Ziel nicht, weil die auf seiner Grundlage gewährten Hilfen vom Empfängerstaat zurückzuzahlen sind und zudem „strengen Auflagen“ unterlägen.7 In einer Entscheidung aus dem Jahr 2004 in der Rechtssache Kommission ./. Rat (C-27/04) hat sich der EuGH mit dem Defizitverfahren nach Art. 126 AEUV befasst.8 Im Rahmen des Defizitver- 2 EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:62012CJ0370:DE:HTML, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 3 Vgl. zu diesem Urteil auch den Aktuellen Begriff – Europa, Das Urteil des EuGH vom 27. November 2012 in der Rechtssache C-370/12 (Pringle/Irland u.a.) von H. Rathke, online abrufbar unter http://www.bundestag.btg/ButagVerw/W/Ausarbeitungen/Einzelpublikationen/Ablage/2012/Das_Urteil_des_E_ 1355207064.pdf, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 4 Vgl. dazu Fuchs, Der Fall Pringle, DeLuxe 05/2012, online abrufbar unter http://www.rewi.europauni .de/deluxe, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 5 EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), a.a.O., Rn. 131. 6 EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), a.a.O., Rn. 136. 7 EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), a.a.O. Rn. 139, 14. 8 EuGH, Rs. C-27/04 (Kom ./. Rat), online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:62004CJ0027:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 18/13 Seite 6 fahrens gegen Deutschland und Frankreich nach Art. 104 EG (jetzt Art. 126 AEUV) hatte der Rat auf Empfehlung der Kommission ein übermäßiges Haushaltsdefizit festgestellt und Empfehlungen an beide Staaten zur Beseitigung des Defizits gerichtet. In der Folgezeit empfahl die Kommission dem Rat, festzustellen, dass sich die zwischenzeitlich von beiden Mitgliedstaaten ergriffenen Maßnahmen als ungeeignet erwiesen hätten und beide Staaten in Verzug zu setzen. Für diese Beschlüsse fand sich im Rat keine Mehrheit. Stattdessen wurden „Schlussfolgerungen“ angenommen , wonach der Rat zum einen beschloss, die ursprünglichen Empfehlungen abzuändern und zum anderen das Defizitverfahren „vorerst auszusetzen“. Der EuGH hat der sich gegen diese Schlussfolgerungen richtenden Klage der Kommission insoweit stattgegeben, als dass der Rat eine Aussetzung des Defizitverfahrens und eine Abänderung bereits angenommener Empfehlungen beschlossen hat: Es sei rechtswidrig, ein laufendes Defizitverfahren außerhalb des Primärund Sekundärrechts auszusetzen und beschlossene Rechtsakte abzuändern.9 2.3. Binnenmarkt und Grundfreiheiten Von entscheidender Bedeutung im Bereich der Wirtschaftspolitik im weiteren Sinn sind außerdem die Entscheidungen des EuGH im Zusammenhang mit den Grundfreiheiten. Der Binnenmarkt ist durch die Freiheit des Waren- (Art. 23ff. AEUV), Personen- (Art. 45ff. AEUV), Dienstleistungs - (Art. 56ff. AEUV) sowie Kapitalverkehrs (Art. 63ff. AEUV) zwischen den Mitgliedstaaten gekennzeichnet. Die Rechtsprechung des EuGH hat entscheidend zur Entwicklung der Grundfreiheiten beigetragen. So hat der EuGH im Rahmen seiner Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit den Begriff der verbotenen „Maßnahmen gleicher Wirkung“ i.S.d. Art. 34 AEUV (Warenverkehrsfreiheit) durch seine „Dassonville“-Entscheidung10 entscheidend geprägt. Nach der sog. Dassonville-Formel ist „jede Handelsregelung der Mitgliedsstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, […] als Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung anzusehen“11. Nach der Ausweitung des Anwendungsbereichs der Warenverkehrsfreiheit, welche nicht nur ein Diskriminierungsverbot sondern auch ein Beschränkungsverbot beinhaltet, hat der EuGH in der bahnbrechenden Cassis-de-Dijon-Entscheidung12 ungeschriebene Rechtfertigungsgründe neben den geschriebenen Rechtfertigungsgründen in Art. 36 AEUV anerkannt. Danach sind mitgliedstaatliche Ein- und Ausfuhrbeschränkungen zulässig, wenn die staatlichen Regelungen unterschiedslos für in- und ausländische Waren gelten und die mitgliedstaatlichen Maßnahmen erforderlich sind, um zwingenden Erfordernissen des Gemeinwohls gerecht zu werden. Solche Gemeinwohlerfordernisse sind beispielsweise die wirksame steuerliche Kontrolle, die Lauterkeit 9 Im Einzelnen vgl. Häde, Aussetzung des Defizitverfahrens durch den Rat, EuR 2004, 738ff. 10 EuGH, Rs. 8/74, (Dassonville), 8/74, Slg. 1974, S. 837 ff., online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61974CJ0008:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.13. 11 EuGH, Rs. 8/74 (Dassonville), a.a.O., Rn. 5. 12 EuGH, Rs. 120/78 (Cassis de Dijon), Slg. 1979, S. 649 ff., online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61978CJ0120:DE:PDF, zuletzt abgerufen am19.02.2013. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 18/13 Seite 7 des Handelsverkehrs, der Verbraucherschutz, die Kulturpolitik, die Medienvielfalt, der Schutz der Arbeitsumwelt oder der Umweltschutz. Schließlich nahm der EuGH die weite Dassonville-Formel teilweise zurück: In seiner Entscheidung in der Rechtssache Keck et Mithouard13 kam er zu dem Ergebnis, dass staatliche Beschränkungen von vornherein keine „Maßnahmen gleicher Wirkung“, d.h. grundsätzlich erlaubt seien, wenn sie als vertriebsbezogene Verkaufsmodalitäten (z.B. Arbeitszeitregelungen, Öffnungszeiten etc.) diskriminierungsfrei für heimische und eingeführte Waren gelten und auch tatsächlich nicht zum Schutz der heimischen Produktion, d.h. der Abschottung nationaler Märkte, führen. Die Abgrenzung von (erlaubten) vertriebsbezogenen Verkaufsmodalitäten zu (verbotenen) produktbezogenen Regelungen erweist sich im Einzelfall bisweilen allerdings als außerordentlich schwierig . Weitere Meilensteine waren die Entscheidungen des EuGH in den Rechtssachen „Buy Irish“14 CMA15 und Schmidberger16, wo er sich mit der Zurechenbarkeit privaten Handels zum Staat beschäftigte: Er hat anerkannt, dass sich ein Mitgliedstaat seiner Verpflichtungen aus dem Unionsrecht nicht dadurch entledigen kann, dass er in privatrechtlicher Rechtsform agiert17 und dass aus den Grundfreiheiten Schutzpflichten entspringen, denen zufolge die Mitgliedstaaten die Berechtigungen aus den Grundfreiheiten gegen Eingriffe durch andere Private aktiv verteidigen müssen18. In der Rechtssache Schmidberger hat er sich zusätzlich mit dem Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten befasst. Die Rechtsprechung des EuGH hat trotz unterschiedlicher Formulierungen der Freiheiten im AEUV eine zunehmende Konvergenz der Grundfreiheiten bewirkt.19 So hat der EuGH etwa in der Rechtssache Gebhard20 die Grundsätze seiner Cassis-Rechtsprechung auf alle Grundfreiheiten übertragen und die Niederlassungsfreiheit vom Diskriminierungsverbot zum Beschränkungsverbot weiterentwickelt.21 13 EuGH, Rs. C-267 und 268/91 (Keck et Mithouard), Slg. 1993, I–6097, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61991CJ0267:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 14 EuGH, Rs. 249/81 (Buy Irish), Slg. 1982, S. 4005, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61981CJ0249:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 15 EuGH, Rs. C-325/00 (CMA), Slg. 2002, I-9993, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:62000CJ0325:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 16 EuGH, C-265/95 (Schmidberger), Slg. 1997, I-6959, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61995CJ0265:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 17 Rs. 249/81 (Buy Irish), a.a.O. und Rs. C-325/00 (CMA), a.a.O. 18 Rs. C-265/81 (Schmidberger), a.a.O. 19 Vgl. dazu Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 8. Auflage 2012, S. 366ff., Rn. 788ff. 20 EuGH, Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995, I-4165, Rn. 37, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61994CJ0055:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 21 Zur Konvergenz der Grundfreiheiten vgl. Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 8. Auflage 2012, S. 366ff., Rn. 788ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 18/13 Seite 8 In seiner Entscheidung in der Rechtsache Bosman22 hat der EuGH erstmals nichtdiskriminierende Maßnahmen eines Herkunftsstaates ausdrücklich als rechtfertigungsbedürftige Eingriffe in die Freizügigkeit der Arbeitnehmer qualifiziert und damit auch die Arbeitnehmerfreizügigkeit von einem Diskriminierungsverbot zu einem Beschränkungsverbot weiterentwickelt. Im Zusammenhang mit der Dienstleistungsfreiheit sei auf die Entscheidung in der Rechtssache Luisi und Carbone23 hingewiesen, wo der EuGH anerkannt hat, dass auch die passive Dienstleistungsfreiheit , d.h. der Empfang von Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat, unionsrechtlich geschützt ist.24 2.4. Wettbewerbspolitik (Art. 101-106 AEUV) Da Wettbewerbsverfälschungen die Güterströme verzerren und dadurch die Errichtung des Binnenmarkts behindern, legt der AEUV die Mitgliedstaaten und die Union auf den Grundsatz einer „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ fest (Art. 119 Abs. 1 und 120 S. 2 AEUV). Wettbewerbsverfälschungen können dabei zum einen durch das Verhalten der auf der Angebotsoder Nachfrageseite handelnden Wirtschaftssubjekte, den Unternehmen verursacht werden, zum anderen können marktwidrige Interventionen der Mitgliedstaaten in die Marktabläufe Verzerrungen hervorrufen. Entsprechend sind im AEUV unternehmensgerichtete Wettbewerbsvorschriften (Art. 101ff. AEUV - Kartellrecht) und staatsgerichtete Wettbewerbsvorschriften (Art. 107ff. AEUV - Beihilfenrecht). In beiden Bereichen ist der EuGH rechtsprechend tätig geworden. Im Folgenden sollen beispielhaft einige wesentliche Entscheidungen dargestellt werden. 2.4.1. Kartellrecht So richtet sich das Kartellverbot in Art. 101 Abs. 1 AEUV unmittelbar an Unternehmen und Unternehmensvereinigungen . Eine Legaldefinition des Unternehmensbegriffs gibt es jedoch nicht. Seit der Entscheidung des EuGH in der Rs. Höfner und Elser25 ist der funktionale Unternehmensbegriff zu Grunde zu legen: Danach ist ein Unternehmen „jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung“26, die nicht ausschließlich Verbraucher oder Arbeitnehmer27 ist. 22 EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921, Rn. 114, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61993CJ0415:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 23 EuGH, verb. Rs. 286/82 u. 26/83 (Luisi und Carbone), Slg. 1984, S. 377, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61982CJ0286:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 24 EuGH, verb. Rs. 286/82 u. 26/83 (Luisi und Carbone), a.a.O., Rn. 10. 25 EuGH, Rs. C-41/90 (Höfner und Elser), Slg. 1991, I-1979, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61990CJ0041:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 26 St. Rsprg. seit EuGH, Rs. C-41/90 (Höfner und Elser), a.a.O., Rn. 21. 27 Dazu vgl. EuGH, Rs. C-22/98 (Becu), Slg. 1999, I-5665, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61998CJ0022:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 18/13 Seite 9 Auch zu der Frage, ob Sozialversicherungsträger als Unternehmen einzuordnen sind, gibt es eine differenzierte Rechtsprechung des EuGH. Beispielhaft genannt sei die Entscheidung in der Rechtssache AOK Bundesverband28, wo der EuGH die Unternehmenseigenschaft der Kostenträger der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung bei der Festsetzung von Festbeträgen für Arzneimittel mit der Begründung verneinte, dass diese Tätigkeit auf dem Grundsatz der Solidarität beruhe und ohne Gewinnerzielungsabsicht erbracht werde. Der EuGH hat in dieser Entscheidung aber auch festgestellt, dass es sich nicht ausschließen lasse, dass die Krankenkassen außerhalb ihrer Aufgaben rein sozialer Art Geschäftstätigkeiten ausführen, die keinen sozialen sondern einen wirtschaftlichen Zweck haben und insofern als Unternehmen tätig werden.29 Mit seiner Entscheidung in der Rechtssache Kattner Stahlbau30 setzte der EuGH seine Rechtsprechung zum funktionalen Unternehmensbegriff fort. Er bestätigte, dass auch die deutschen Berufsgenossenschaften nicht als Unternehmen i.S.d. Kartellrechts anzusehen sind, sondern eine Aufgabe rein sozialer Natur wahrnehmen, soweit sie im Rahmen eines solidarischen Systems, das staatlicher Aufsicht unterliegt, tätig werden.31 In seiner Entscheidung in der Rechtsache Wouters32 hat der EuGH entschieden, dass die Anwendung des Art. 101 Abs. 1 AEUV selbst dann ausgeschlossen sein kann, wenn grundsätzlich eine Wettbewerbsbeschränkung vorliegt, diese aber für das grundlegende Funktionieren des Marktes erforderlich ist: So bejahte er ausdrücklich, dass das niederländische Verbot gemischter Sozietäten zwischen Rechtsanwälten und Wirtschaftsprüfern wettbewerbsbeschränkend wirkt und den Handel in der Union beeinträchtigt, dass diese wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen aber erforderlich seien, um die ordnungsgemäße Ausübung des Rechtsanwaltsberufs sicherzustellen, so dass eine Anwendung des Art. 101 Abs. 1 AEUV dennoch nicht in Frage kam. 2.4.2. Beihilfenrecht Auch die EU-Beihilfenkontrolle nach Art. 107 ff. AEUV dient dazu, den Binnenmarkt vor Wettbewerbsverfälschungen zu schützen. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH seit seiner Entscheidung Steenkolemijnen33 ist das Beihilfenmerkmal der Begünstigung weit auszulegen. In der viel diskutierten34 Entscheidung Altmark Trans35 hat der EuGH ein ausdifferenziertes Prüfungsschema zum Begünstigungscharakter von Ausgleichszahlungen für Allgemeinwohlver- 28 EuGH, Rs. C-264/01 (AOK Bundesverband), Slg. 2004, I-02493, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:62001CJ0264:DE:HTML, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 29 EuGH, Rs. C-264/01 (AOK Bundesverband), a.a.O., Rn. 58. 30 EuGH, Rs. C-350/07 (Kattner Stahlbau, Slg. 2009, I-1513, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:62007CJ0350:DE:HTML, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 31 Zu der differenzierten Rechtsprechung des EuGH zur Unternehmenseigenschaft im Zusammenhang mit der Wahrnehmung von Aufgaben sozialer Natur vgl. z.B. Laer, die gesetzlichen Krankenkassen im Anwendungsbereich des Kartell- und Lauterkeitsrechts, Hamburg 2011, 40 ff. 32 EuGH, Rs. C-309/99 (Wouters), Slg. 2002, I-1577, Rn. 94 ff., online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61999CJ0309:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 33 EuGH, Rs. 30/56 (Steenkolenminjen), Slg. 1961, S. 1. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 18/13 Seite 10 pflichtungen entwickelt und Voraussetzungen aufgestellt, bei deren Vorliegen die Begünstigungswirkung einer solchen Ausgleichszahlung und damit der Beihilfentatbestand ausgeschlossen sind. Der Entscheidung in der Rechtssache Preußen Elektra36 ist zu entnehmen, dass Leistungen, die allein zwischen privaten Unternehmen ausgetauscht werden, keine staatlichen Mittel und damit keine Beihilfe i.S.d. Art. 107 Abs. 1 AEUV darstellen, auch wenn der Austausch auf gesetzlicher Anordnung beruht. Wesentlichen Einfluss hat die Rechtsprechung des EuGH auch auf die Rückforderung rechtswidriger Beihilfen.37 Unionsrechtlich ist logische Folge der rechtswidrigen Gewährung einer Beihilfe deren Rückforderung. Die Umsetzung der Rückforderung ist den jeweiligen Mitgliedstaaten überlassen . Die effektive Durchsetzung des Unionsrechts darf aber nicht übermäßig erschwert werden (effet utile). Für das deutsche Verwaltungsrecht ergibt sich aus der Alcan-Rechtsprechung38 des EuGH insbesondere, dass EU-beihilfenrechtswidrig begünstigte Unternehmen grundsätzlich keinen Vertrauensschutz genießen. Vielmehr ist es einem Unternehmen zuzumuten, sich über die ordnungsgemäße Einhaltung des beihilfenrechtlichen Verwaltungsverfahrens zu vergewissern. 3. Grundlegende Rechtsprechung des EuGH im Bereich der Sozialpolitik Unter Sozialpolitik versteht man gemeinhin Maßnahmen zur Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Situation insbesondere benachteiligter gesellschaftlicher Gruppen. Übergeordnetes politisches Ziel ist die Integration der sozial schwächeren Bevölkerungsgruppen in die Gesellschaft und damit die Stabilisierung der Gesellschaftsordnung. 34 Vgl. z.B. Bauer, Rechtssicherheit bei der Finanzierung gemeinwirtschaftlicher Leistungen? Zum Verhältnis zwischen Art. 87 I und Art. 86 II EG nach der Altmark-Entscheidung des EuGH, EuZW 2006, 7; Knauff, Zum Verhältnis von europäischem Beihilfenrecht und mitgliedstaatlicher Daseinsvorsorge, EuZW 2006, 79, Tödtmann /Schauer, Aktuelle Rechtsfragen zum öffentlichen Personennahverkehr - Nationale und europäische Rechtsentwicklung sowie Konsequenzen für die Praxis, NVwZ 2008, 1. 35 EuGH, Rs. C-280/00 (Altmark Trans), Slg. 2003, I-7747, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:62000CJ0280:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 36 EuGH, Rs. 379/98 (Preussen Elektra), Slg. 2001, I-2099, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61998CJ0379:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 37 Zum Ganzen vgl. Heidenhaim, Handbuch des Europäischen Beihilfenrechts, 2003, § 51, Rn. 6ff. 38 EuGH, Rs. 94/87 (Alcan I), Slg. 1989, 175, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61987CJ0094:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013; C- 24/95 (Alcan II), Slg. 1997, I-1591, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61995CJ0024:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 18/13 Seite 11 3.1. Rahmen der Europäischen Sozialpolitik Die Europäische Sozialpolitik kennt die in Deutschland übliche Unterscheidung nach Arbeitsund Sozialrecht nicht.39 Vielmehr wird unter Europäischer Sozialpolitik im weiteren Sinn die Summe der Regelungen verstanden, die das Ziel verfolgen, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Bürger durch öffentliche Maßnahmen zu verbessern.40 So benennt Art. 3 Abs. 3 UAbs. 2 EUV für die Union sozialpolitische Ziele. Danach bekämpft die Union soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes. Gleichheit, Nichtdiskriminierung, Gerechtigkeit, Solidarität und Gleichheit von Frauen und Männern zählen zudem gemäß Art. 2 EUV zu den gemeinsamen Werten und Prinzipien, auf die sich die Union gründet. Gemäß Art. 4 Abs. 2 lit. b) AEUV wird die Sozialpolitik in geteilter Zuständigkeit von Union und Mitgliedstaaten wahrgenommen. Die europäische Sozialpolitik im engeren Sinn ist in den Art. 151-161 AEUV geregelt. Art. 151 AEUV beschreibt es als Aufgabe der Mitgliedstaaten, die Beschäftigung zu fördern, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte anzugleichen und zu verbessern, einen angemessenen sozialen Schutz zu gewähren und Ausgrenzungen zu bekämpfen. Zur Verwirklichung dieser sozialpolitischen Ziele unterstützt und ergänzt die Union die Tätigkeit der Mitgliedstaaten in den in Art. 153 AEUV genannten Bereichen. Beispielhaft genannt seien an dieser Stelle die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, die soziale Sicherheit der Arbeitnehmer, der Schutz der Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsvertrages, die kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer - und Arbeitgeberinteressen, Chancengleichheit von Männern und Frauen und die Modernisierung der Systeme des sozialen Schutzes. Zudem verpflichten die Querschnittsklauseln der Art. 8, 9 und 10 AEUV die Unionsorgane, bei allen Maßnahmen der EU die Gleichstellung von Männern und Frauen und ein hohes Beschäftigungsniveau zu fördern, dem sozialen Schutz und der Bekämpfung sozialer Ausgrenzung Rechnung zu tragen sowie die Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen. Entsprechend sind nicht nur das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission, sondern auch der Europäische Gerichtshof verpflichtet, diese Grundsätze zu beachten. So war es insbesondere der EuGH, der wesentlichen Schritten in der Sozialpolitik im weiteren Sinn den Weg geebnet hat. Eine Darstellung der wesentlichen Rechtsprechung des EuGH aus allen Bereichen der europäischen Sozialpolitik würde den Rahmen dieser Ausarbeitung sprengen, Insofern werden einige Bereiche des europäischen Sozialrechts ausgewählt und die dort grundlegenden Entscheidungen des EuGH – wiederum ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit – dargestellt. 39 Frenz, Handbuch Europarecht, Band 6, 2011, S. 1093, Rn. 3825. 40 Frenz, a.a.O., Rn. 3826 m.w.N., Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 18/13 Seite 12 3.1.1. Sozialpolitik i.e.S. Zur Rechtsangleichung auf dem Gebiet der Sozialpolitik ist die Union befugt, durch Richtlinien Mindeststandards festzulegen (Art. 153 Abs. 2 lit. b) AEUV). Die Mitgliedstaaten können aber Regelungen mit höherem Schutzniveau treffen (Art. 153 Abs. 4 zweiter Spiegelstrich AEUV). Nach Art. 153 Abs. 4 erster Spiegelstrich, Abs. 5 AEUV bleibt die Regelungsautonomie der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Grundprinzipien ihres Systems der sozialen Sicherheit sowie das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht und das Arbeitskampfrecht unberührt. In diesem Zusammenhang hatte der EuGH über eine Klage Großbritanniens gegen die Arbeitszeitrichtlinie des Rates zu entscheiden.41 Er ging davon aus, dass diese Richtlinie auf Art. ex-118a EGV (jetzt 153 AEUV gestützt werden konnte, da diese Ermächtigungsgrundlage weit auszulegen sei: Die Ermächtigung, "Mindestvorschriften" zu erlassen, schreibe dem Rat nicht die Intensität des Handelns vor; die Bestimmung beschränke das Tätigwerden der Gemeinschaft nicht auf den kleinsten gemeinsamen Nenner bzw. auf das niedrigste in einem Mitgliedstaat erreichte Schutzniveau. Der Ausdruck "Mindestvorschriften" bedeutete nur, dass die Mitgliedstaaten weitergehende Maßnahmen treffen können. Im Zusammenhang mit der Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern im Rahmen der Sozialgesetzgebung (vgl. Art. 154, 155 AEUV) hatte das EuG im Fall UEAPME42 über die Problematik von Richtlinien, mit denen der Rat Vereinbarungen Europäischer Sozialpartner zum Rechtssatz erhebt , zu entscheiden. Eine europäische Vereinigung, die die Interessen kleiner und mittlerer Unternehmen auf europäischer Ebene vertritt hatte gegen die Richtlinie 96/34/EG über den Elternurlaub 43 Nichtigkeitsklage erhoben und diese damit begründet, dass ihr die angestrebte Beteiligung an den Verhandlungen der Sozialpartner (vgl. Art. 145, 155 AEUV) versagt worden sei. Stattdessen sei die Vereinbarung allein von der Union der Industrien der EG, der Europäischen Zentrale der Öffentlichen Wirtschaft und vom Europäischen Gewerkschaftsbund ausgehandelt worden. Das EuG verneinte die Beeinträchtigung der Klägerin in einer individuellen Rechtsposition durch das beanstandete Verfahren und wies deshalb die Klage als unzulässig ab. Das Gericht erkannte aber an, dass die Sozialpartner hinreichend repräsentiert sein müssen.44 3.1.2. Gleichbehandlung von Männer und Frauen In Art. 157 AEUV ist der Grundsatz der Entgeltgleichheit geregelt. Die Wirkung der Vorschrift geht dank der Rechtsprechung des EuGH aber über das Entgeltgleichheitsgebot hinaus. So hat der Gerichtshof über die Auslegung von Art. 157 AEUV (ex-Art. 119 EG) grundlegende Strukturen des europäischen Antidiskriminierungsrechts geschaffen. 41 EuGH, Rs. C-84/94, Slg. 1996, I-5755, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61994CJ0084:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 42 EuG, Rs. T-135/96 (UEAPME), Slg. 1998, II-2335, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61996TJ0135:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 43 Richtlinie 96/34/EG des Rates vom 3. Juni 1996 zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Elternurlaub, ABl. L 145 vom 19.6.1996, S. 4–9. 44 EuG, Rs. T-135/96, a.a.O., Rn. 89. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 18/13 Seite 13 Als wegweisende Entscheidung des EuGH ist in diesem Zusammenhang die Rechtsache Defrenne II zu nennen.45 In dieser Entscheidung betonte der EuGH, dass das Diskriminierungsverbot des ex-Art. 141 EG (heute Art. 157 AEUV) unmittelbar für gesetzliche oder vertragliche Ungleichbehandlungen gilt, so dass ich der oder die Einzelne auch gegenüber privaten Arbeitgebern und auch bei einem reinen Inlandssachverhalt auf den Grundsatz der Entgeltgleichheit berufen kann.46 In der Folgeentscheidung Defrenne III47 hat der EuGH jedoch klargestellt, dass die Festsetzung einer besonderen Altersgrenze ungeachtet ihrer finanziellen Auswirkungen nicht in den Anwendungsbereich der Lohngleichheit fällt. Zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen wurde die Richtlinie 2006/54/EG48 erlassen. Nach der viel diskutierten49 Entscheidung des EuGH in der Rechtsache Kalanke50 verbietet es diese Richtlinie, bei gleicher Qualifikation weibliche Stellenbewerberinnen gegenüber ihren männlichen Konkurrenten aufgrund einer „Frauenquote“ zu bevorzugen, die ihnen absolut und unbedingt den Vorrang einräumt. Quotenregelungen mit sogenannten Öffnungsklauseln, nach denen Frauen nicht vorrangig befördert werden müssen, sofern für die Person eines männlichen Mitbewerbers sprechende Gründe überwiegen , sind nach den Entscheidungen des EuGH in den Rechtssachen Marschall51 und Badeck52 jedoch zulässig. Im Hinblick auf den Zugang zur Beschäftigung und einer etwaigen Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung wegen eines geschlechtsbezogenen Merkmals ist die wegweisenden Entscheidung in den Rechtssachen Sirdar53 und Kreil54 zu nennen. Nachdem der EuGH in Sirdar klarge- 45 EuGH, Rs. 43/75 (Defrenne II), Slg. 1976, S. 455, Rn. 7 ff., online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61975CJ0043:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 46 EuGH, Rs. 43/75 (Defrenne II), a.a.O., Rn. 38/39. 47 EuGH, Rs. 149/77 (Defrenne III), Slg. 1978, S. 1365, Rn. 19, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61977CJ0149:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 48 Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neufassung), ABl. L 204 vom 26.7.2006, S. 23–36. 49 Vgl. z.B. Schmidt, Die Kalanke-Entscheidung des EuGH - das Aus für die Quotenregelung?, NJW 1996, 1724; Weitere Nachweise bei den bibliographischen Angaben zum Urteil unter http://eurlex .europa.eu/Notice.do?val=207677:cs&lang=de&list=207677:cs,207595:cs,203963:cs,&pos=1&page=1&nbl=3&p gs=10&hwords=, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 50 EuGH, Rs. C-450/93 (Kalanke), Slg. 1995, I-3051, Rn. 22, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61993CJ0450:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 51 EuGH, Rs. C-409/95 (Marschall), Slg. 1997, I-6363, Rn. 33, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61995CJ0409:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 52 EuGH, Rs. C-158/97 (Badeck), Slg. 2000, I-1875, Rn. 38, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61997CJ0158:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 53 EuGH, Rs. 273/97 (Sirdar), Slg. 1999, I-7403, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61997CJ0273:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 18/13 Seite 14 stellt hatte, dass die Gleichbehandlungsrichtlinie auch für die Beschäftigung von Frauen in den Streitkräften gilt, hatte er sich in Kreil mit dem Ausschluss von Frauen von Kampfeinheiten der Bundeswehr auseinanderzusetzen. Frauen vollständig vom Dienst mit der Waffe für nahezu alle militärischen Verwendungen auszuschließen, ist nach Auffassung des EuGH eine nicht durch funktionale Erwägungen zu rechtfertigende Benachteiligung von Frauen. Einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung und Präzisierung des Verbots der mittelbaren Diskriminierung hat der EuGH mit seiner Entscheidung in der Rechtssache Voß55 geleistet. Dort hatte er entschieden, dass das Unionsrecht nicht nur vor offenen Diskriminierungen auf Grund des Geschlechts schützt sondern auch versteckte Diskriminierungen erfasst sind. Solche Diskriminierung liegen vor, wenn eine Regelung zwar keine ausdrückliche Differenzierung nach dem Geschlecht vornehmen, wegen einer anderen Unterscheidung jedoch tatsächlich wesentlich mehr Frauen als Männer (oder umgekehrt) betroffen und benachteiligt sind. In die gleiche Richtung ging die Entscheidung Gerster56, in der es um die (Nicht-)Berücksichtigung von Teilzeitbeschäftigungszeiten für Beförderungen ging. Zwar fand hier keine Anknüpfung an das Geschlecht statt, da jedoch 87% der Teilzeitbeschäftigten im konkreten Fall Frauen war, erkannte der EuGH eine versteckte Diskriminierung. Von grundsätzlicher Bedeutung ist auch das Urteil des EuGH zu den Unisextarifen im Versicherungswesen .57 Der Gerichtshof stellte fest, dass Artikel 5 der Richtlinie 2004/113/EG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen ungültig sei. Zur Begründung führte er an, dass diese Vorschrift – wonach für Männer und Frauen unterschiedliche Versicherungstarife zum Zuge kommen können, falls das Geschlecht als Einflussfaktor für die Risikobewertung versicherungsmathematisch und statistisch belegt ist – gegen Art. 21 und 23 der Grundrechtecharta verstoße . Die Richtlinie 2004/113/EG gehe grundsätzlich davon aus, dass nicht geschlechtsneutrale Prämien und Leistungen die Ausnahme darstellten. Art. 5 Abs. 2 Richtlinie 2004/113/EG lasse jedoch letztlich auch unbefristete Ausnahmen zu, was der Verwirklichung des Ziels der Gleichstellung der Geschlechter nicht Rechnung trage. 54 EuGH, Rs. C-285/98 (Kreil), Slg. 2000, I-69, Rn. 31, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61998CJ0285:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 55 EuGH, Rs. C-300/06 (Voß/Land Berlin), Slg. 2007, I-10573, Rn. 25, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:62006CJ0300:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 56 EuGH, Rs. C-1/95, (Gerster), Slg. 2000, I-10997, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61995CJ0001:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 57 EuGH, Rs. C-236/09 (Unisextarife), Slg. 2001, I-773, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:62009CJ0236:DE:HTML, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 18/13 Seite 15 3.1.3. Verbot der Altersdiskriminierung In seiner viel diskutierten58 Mangold-Entscheidung59 hat der EuGH, auf die Vorlagefrage des Arbeitsgerichts München noch vor Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie 2000/78/EG entschieden , dass § 14 Abs. 3 Teilzeit- und Befristungsgesetz alter Fassung (TZBfG a.F.) wegen Verstoßes gegen den „allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts“ des Verbots der Altersdiskriminierung europarechtswidrig und damit von den nationalen Gerichten nicht mehr anzuwenden sei. In der Rechtssache Rosenbladt hat der EuGH entschieden, dass eine tarifvertragliche Regelung, wonach ein Arbeitsverhältnis automatisch endet, wenn der/die Beschäftigte das Rentenalter erreicht , nicht gegen das in Art. 2 der Richtlinie 2000/78/EG (RL 2000/78/EG) normierte Verbot der Altersdiskriminierung verstößt weil sie gerechtfertigt ist.60 Damit hat der EuGH in nun gefestigter Rechtsprechung61 bekräftigt, dass die nationalen Gesetzgeber und Sozialpartner im Rahmen eines weiten Ermessensspielraums Regelungen über das Ausscheiden von Arbeitnehmern aus dem aktiven Erwerbsleben bei Erreichen des Rentenalters treffen können. Im Fall Kücükdeveci62 war der EuGH mit der Diskriminierung jüngerer Arbeitnehmer befasst. Er sah die Nichtberücksichtigung der im Betrieb verbrachten Arbeitszeiten vor Vollendung des 25. Lebensjahres bei der Kündigungsfrist als eine ungerechtfertigte Altersdiskriminierung an.63 3.1.4. Unionsbürgerschaft und nationales Sozialrecht Die Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit64 und die Verordnung über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer65 in der Gemeinschaft verlangen eine Gleichbehandlung 58 Vgl. die bibliographischen Angaben/Lehrmeinung zum Urteil des Gerichtshofs in der Rs. C-144/04 in der europäischen Datenbank EUR-Lex, online abrufbar http://eurlex .europa.eu/Notice.do?val=417474:cs&lang=de&list=473935:cs,471332:cs,417474:cs,417772:cs,&pos=3&page= 1&nbl=4&pgs=10&hwords=, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 59 EuGH, Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-09981, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:62004CJ0144:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 60 Vgl. auch Aktueller Begriff – Europa, Automatische Beendigung von Arbeitsverhältnissen bei Erreichen des Rentenalters im Einklang mit dem Unionsrecht, online abrufbar unter http://www.bundestag.btg/ButagVerw/W/Ausarbeitungen/Einzelpublikationen/Ablage/2010/Automatische_Bee _1290158509.pdf, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 61 Vgl. auch die Urteile des EuGH in den Rechtssachen C-341/08 (Petersen); Rs. C-388/07 (Age Concern), Slg. 2009, I-01569; Rs. C 411/05 (Palacios de la Villa), Slg. 2007, I-08531; Rs. C-109/09 (Kumpan), verb. Rs. C-250/09 u. C- 268/09 (Georgiev); Rs. C-447/09 (Prigge u.a.); Rs. C-159/10 (Fuchs); Rs. C-160/10 (Köhler), alle online abrufbar unter Angabe der Rechtsachennummer unter http://eur-lex.europa.eu/RECH_naturel.do. 62 EuGH, Rs. C-555/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, I-365 , online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:62007CJ0555:DE:HTML, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 63 Für weitere Rechtsprechungsbeispiele im Bereich der Altersdiskriminierung vgl. z.B. Bauschke, Altersdiskriminierung und Altersgrenzen – aktuelle Rechtsprechung des EuGH, öAT 2011, 9ff. 64 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Text von Bedeutung für den EWR und die Schweiz), ABl. L 166 vom 30.4.2004, S. 1–123. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 18/13 Seite 16 von Inländern mit Personen aus anderen EU-Mitgliedstaaten. Da der persönliche und sachliche Geltungsbereich dieser Verordnungen aber beschränkt ist, ergibt sich aus ihnen kein unbegrenzter Zugang zu den Leistungen des Sozialrechts der Mitgliedstaaten. Der EuGH hat jedoch der Unionsbürgerschaft (Art. 20 AEUV) und der mit ihr verbundenen Freizügigkeit (Art. 21 AEUV) eine Dimension gegeben, die den Zugang zu sozialen Leistungen für Angehörige von EU- Mitgliedstaaten im EU-Ausland erheblich erweitert. Der dogmatische Ansatz hierzu war die Verknüpfung der Unionsbürgerschaft mit dem Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV (ex-Art. 12 EG). Unionsbürger, die von ihrem Recht der Freizügigkeit aus Art. 21 AEUV Gebrauch machen, dürfen gegenüber Inländern, was den Zugang zu sozialen Leistungen anbelangt, nicht schlechter behandelt werden. Zuletzt hat der EuGH die Gleichstellung auch ohne Rekurs auf Art. 18 AEUV bewältigt und differenzierende Behandlungen bereits als im Widerspruch zu Art. 20, 21 AEUV stehend behandelt.66 Richtungsweisende Entscheidungen in diesem Zusammenhang waren die in den Rechtssachen Martinez Sala67 und Grzelczyk68. In Martinez Sala stand die Gewährung deutschen Erziehungsgeldes in Frage. Da es möglicherweise an der Arbeitnehmereigenschaft der Klägerin fehlte und damit die VO (EWG) Nr. 1408/71 bzw. VO (EWG) Nr. 1612/68 nicht zur Anwendung gelangten, verlangte die zuständige deutsche Stelle von der Klägerin die Vorlage einer Aufenthaltserlaubnis. Hierin sah der EuGH einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 12 EG (jetzt Art. 18 AEUV), da für deutsche Staatsangehörige ein solches Erfordernis nicht bestand, sondern lediglich das Bestehen eines Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthaltes Anspruchsvoraussetzung war. In Grzelczyk stand die Gewährung von Sozialhilfe für Studenten in Frage. Der EuGH hatte eine nationale Regelung für rechtswidrig gehalten, die Angehörigen eines anderen Mitgliedstaates den Anspruch auf Gewährung des Existenzminimums nur dann einräumt, wenn diese Arbeitnehmer im Sinne der VO (EWG) Nr. 1612/68 sind, während für die Angehörigen des Aufnahmestaates eine derartige Voraussetzung nicht galt.69 3.1.5. Sozialpolitik und Grundfreiheiten Die Nutzung der Grundfreiheiten hat zur Folge, dass viele sozialrechtliche Fragen aufgeworfen werden. Beispielhaft seien einige Entscheidungen des EuGH in diesem Zusammenhang genannt: 65 Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, ABl. L 257 vom 19.10.1968, S. 2–12. 66 Fuchs, in: Kreikebohm, Kommentar zum Sozialrecht, 2. Auflage 2011, Europäisches Sozialrecht, Rn. 182ff. 67 EuGH, Rs. C-85/96 (Martines Sala), Slg. 1998 I-2691, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61996CJ0085:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 68 EuGH, Rs. C-184/99 (Grzelczyk), Slg. 2001, I-6193, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61999CJ0184:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 69 Diese Rechtsprechung hat der EuGH in zahlreichen Entscheidungen fortgeführt. Vgl. etwa Rs. C-222/98 (D'Hoop), Slg. 2002, I-6212; Rs. C-413/99 (Baumbast), Slg. 2002, I-7136; Rs. C-138/02 (Collins), Slg. 2004, I-2703; Rs. C-456/02 (Trojani), Slg. 2004, I-7573; Rs. C-209/03 (Bidar), Slg. 2005, I-2119; C-258/04 (Ioannides), Slg. 2005, I-8275), alle online abrufbar unter Angabe der Rechtsachennummer unter http://eurlex .europa.eu/RECH_naturel.do. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 18/13 Seite 17 Obwohl das Arbeitskampfrecht durch Art. 153 Abs. 5 AEUV von der Regelungszuständigkeit der Union ausgenommen ist, hat sich der EuGH in den Fällen Viking Lane70 und Laval71 mit Umfang und Grenzen des Rechts auf Arbeitskampf im Verhältnis zu Grundfreiheiten befasst. In den heftig kritisierten72 Entscheidungen hat der EuGH zwar festgestellt, dass kollektive Maßnahmen, einschließlich Streiks und Blockaden als (soziale) Grundrechte vom Gemeinschaftsrecht anerkannt sind (auch unter Heranziehung der Europäischen Sozialcharta), doch werden diesen Grundrechten durch die (mit unmittelbarer Drittwirkung ausgestatteten) Grundfreiheiten Grenzen gesetzt – in den Fällen waren die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit betroffen. Wegweisend war auch die Entscheidung in der Rechtssache Decker73: Der Kläger des luxemburgischen Ausgangsverfahrens erwarb in Belgien eine Brille mit Korrekturgläsern. Die Verschreibung für die Brille war von einem Augenarzt in Luxemburg ausgestellt worden. Die Krankenkasse des Klägers lehnte die Kostenerstattung ab, weil der Kläger sich den Erwerb der Brille in Belgien nicht zuvor von der Krankenkasse hatte genehmigen lassen. Nach den einschlägigen luxemburgischen Vorschriften bedurfte der Erwerb der Brille außerhalb Luxemburgs der vorherigen Genehmigung der Krankenkasse. Der um Vorabentscheidung ersuchte EuGH sah in dieser Beschränkung einen Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit. Auch in der Rechtssache Kohll74 war der EuGH mit der Inanspruchnahme von Krankenkassenleistungen in einem anderen Mitgliedstaat befasst: Er sah in einer nationalen Regelung, die die Erstattung der Kosten für Zahnbehandlung durch einen Zahnarzt in einem anderen Mitgliedstaat nach den Tarifen des Versicherungsstaats von der Genehmigung des Trägers der sozialen Sicherheit des Versicherten abhängig macht, einen Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit.75 - Fachbereich Europa - 70 EuGH, Rs. C-438/05 (Viking Lane), Slg. 2007, I-10779, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:62005CJ0438:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 71 EuGH, Rs. C-341/05 (Laval), Slg. 2007, I-11767, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:62005CJ0341:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 72 Vgl. Schubert, in: Däubler/Hjort/Schubert/Wolmerath, Arbeitsrecht, 2. Auflage 2010, Art. 157 AEUV, Rn. 173 m.w.N. 73 EuGH, Rs. C-120/95 (Decker), Slg. 1998, I-01831, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61995CJ0120:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 74 EuGH, Rs. C-158/96 (Kohll), Slg. 1998, I-1931, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61996CJ0158:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 75 Vgl. in diesem Bereich auch die aktuellen Entscheidungen des EuGH in den Rs. C-211/08, Rs. C-173/09 und Rs. C-512/08 (alle online abrufbar unter Angabe der Rechtsachennummer unter http://eurlex .europa.eu/RECH_naturel.do), in denen es auch um die Frage ging, ob und gegebenenfalls inwieweit die Mitgliedstaaten die Kostenerstattung für eine medizinische Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat von einer vorherigen Genehmigung abhängig machen bzw. im Falle einer im Ausland erfolgten medizinischen Behandlung eine geringere Kostenerstattung vorsehen dürfen, ohne gegen die Dienstleistungsfreiheit zu verstoßen.