© 2021 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 016/21 Fragen zur parlamentarischen Mitwirkung des Europäischen Parlaments im Rahmen des Wiederaufbauprogramms der Europäischen Union „Next Generation EU“ Sachstand Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Sachstand PE 6 - 3000 - 016/21 Seite 2 Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Fragen zur parlamentarischen Mitwirkung des Europäischen Parlaments im Rahmen des Wiederaufbauprogramms der Europäischen Union „Next Generation EU“ Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 016/21 Abschluss der Arbeit: 30. März 2021 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Sachstand PE 6 - 3000 - 016/21 Seite 3 1. Fragestellung Der Fachbereich Europa wurde beauftragt darzulegen, über welche Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte das Europäische Parlament (EP) hinsichtlich der Anleihefinanzierung des europäischen Wiederaufbauprogramms Next Generation EU (NGEU) sowie hinsichtlich der Aufbau- und Resilienzfazilität verfügt. Der vorliegende Sachstand wird zunächst die Mitwirkungsrechte des EP bei der Schaffung der Rechtsgrundlagen für die genannten Finanzinstrumente darstellen. In einem weiteren Schritt wird beleuchtet, ob und welche besonderen, über die generellen parlamentarischen Befugnisse und Kontrollrechte dem EP darüber hinaus im Rahmen der Anleihefinanzierung des NGEU sowie bei der Durchführung der Aufbau- und Resilienzfazilität eingeräumt wurden. 2. Zum Wiederaufbauprogramm der Europäischen Union „Next Generation EU“ Mit der Einrichtung des europäischen Wiederaufbauprogramms Next Generation EU(NGEU) reagiert die Europäische Union (EU) auf die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie. Beim NGEU handelt es sich um einen neuen, außerordentlichen und temporären Mechanismus zur Finanzierung der Aufbaumaßnahmen durch externe zweckgebundene Einnahmen. Das Programm soll für den Zeitraum 2021 bis 2024 mit einem Finanzvolumen von 750 Mrd. EUR ausgestattet werden. Die Rechtsgrundlage für seine Finanzierung bildet Art. 5 des Eigenmittelbeschlusses1 (EMB), der vom Rat nach der Einigung über den Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 am 14. Dezember 2020 angenommen wurde. Mit dieser Bestimmung wird die KOM ermächtigt, an den Kapitalmärkten im Namen der Union Mittel bis zu 750 Mrd. EUR zu Preisen von 2018 aufzunehmen (Abs. 1 lit. a). Die Mittel sind zur Bewältigung der Folgen der COVID-19-Krise zweckgebunden und ihre Verwendung in Grundzügen (360 Mrd. EUR Darlehen, 390 Mrd. EUR Zuschüsse) festgelegt (Abs. 1 lit. b). Die Anleihen werden durch eine temporäre Erhöhung der Eigenmittelobergrenze um 0,6 Punkte auf dann 2,0 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) abgesichert. Die Tilgung soll spätestens 2028 beginnen und bis 2058 abgeschlossen sein (Art. 6 EMB). Die Mittelverwendung auf der Ausgabenseite wird durch das Aufbauinstrument EURI2 gesteuert. Das im EURI vorgesehene Programm zur Vergabe von Darlehen und Zuschüssen an die Mitgliedstaaten soll mit der sog. Aufbau- und Resilienzfazilität (ARF) umgesetzt werden. Nach der politischen Einigung von Rat und EP vom 17. Dezember 2020 über den Entwurf der ARF-Verordnung3 stimmten die EU-Mitgliedstaaten dem Kompromisstext am 22. Dezember 2020 einstimmig zu, 1 Beschluss (EU, Euratom) 2020/2053 des Rates vom 14. Dezember 2020 über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union, ABl. L 424/1 vom 15. Dezember 2020. 2 European Union Recovery Instrument (EURI). Errichtet durch Verordnung (EU) 2020/2094 des Rates vom 14. Dezember 2020 zur Schaffung eines Aufbauinstruments der Europäischen Union zur Unterstützung der Erholung nach der COVID-19-Krise, ABl. L 433 I/23 vom 22. Dezember 2020. 3 KOM, Vorschlag (KOM(2020) 408) für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung einer Aufbau- und Resilienzfazilität. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Sachstand PE 6 - 3000 - 016/21 Seite 4 das EP bestätigte ihn mit seiner legislativen Entschließung vom 10. Februar 2021. Nach Bestätigung durch den Rat vom 11. Februar 2021 ist die ARF-Verordnung am 18. Februar 2021 in Kraft getreten. 3. Mitwirkung des EP an der Rechtsetzung 3.1. Eigenmittelbeschluss Der EMB, mit dem die Bestimmungen über das System der Eigenmittel der Union festgelegt werden , wird auf der Grundlage von Art. 311 Abs. 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der europäischen Union (AEUV) durch den Rat gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren einstimmig und nach Anhörung des EP erlassen. Art. 311 Abs. 3 S. 3 weist das Letztentscheidungsrecht über den EMB den Mitgliedstaaten zu, die ihn nach Maßgabe ihrer verfassungsrechtlichen Vorschriften bestätigen müssen, bevor er in Kraft treten kann. In ihrer Entscheidung sind sie darauf beschränkt, ihn anzunehmen oder abzulehnen. Beim Anhörungsverfahren legt die Europäische Kommission (KOM) ihren Vorschlag für den EMB vor, der dem Rat übermittelt wird. Der Rat muss das EP konsultieren, bevor er über den Vorschlag entscheidet. In seiner im Anhörungsverfahren angenommenen Stellungnahme kann das EP Änderungen am Vorschlag der KOM fordern, den diese in einem geänderten Vorschlag aufnehmen kann. Der Rat unterliegt jedoch nicht der Pflicht, die Stellungnahme des EP zu berücksichtigen . 3.2. Durchführungsmaßnahmen zu dem System der Eigenmittel der Union Vorausgesetzt, der EMB sieht dies vor,4 kann der Rat in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren gemäß Art. 311 Abs. 4 AEUV durch Verordnung Durchführungsmaßnahmen zu dem System der Eigenmittel der Union erlassen. Für den Erlass dieser Verordnungen beschließt der Rat nach Zustimmung des EP. Bei dem Zustimmungsverfahren leitet der Rat einen Rechtsakt, auf den er sich geeinigt hat, dem EP zur Zustimmung zu. Das EP muss seine Zustimmung erteilen, bevor dieser Rechtsakt in Kraft treten kann. Im Zustimmungsverfahren, in dem dem EP lediglich ein Vetorecht zugewiesen ist, hat das EP keine Möglichkeit, Änderungen an dem Dossier vorzuschlagen oder durchzusetzen. 3.3. Verordnung zur Einrichtung einer Aufbau- und Resilienzfazilität Die Verordnung (EU) 2021/2415 vom 12. Februar 2021 zur Einrichtung der Aufbau- und Resilienzfazilität ist auf der Grundlage von Art. 175 Abs. 3 AEUV im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren 4 So der aktuelle EMB in Art. 10. Hier ist der Erlass von Durchführungsmaßnahmen für das Verfahren zur Berechnung und Budgetierung des jährlichen Haushaltssaldos gemäß Art. 8 EMB und für die notwendigen Bestimmungen und Regelungen zur Kontrolle und Überwachung der Erhebung der in Art. 2 Abs. 1 EMB aufgeführten Eigenmittel und etwaiger einschlägiger Mitteilungspflichten. 5 Die Verordnung (EU) 2021/241 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Februar 2021 zur Einrichtung der Aufbau- und Resilienzfazilität, ABl. L 57/17 vom 18. Februar 2021. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Sachstand PE 6 - 3000 - 016/21 Seite 5 erlassen worden.6 Das in Art. 294 AEUV bestimmte ordentliche Gesetzgebungsverfahren sieht die gemeinsame Annahme von Rechtsetzungsvorschlägen der KOM durch das EP und den Rat vor. Der dabei durchlaufene Prozess kann bis zu drei Lesungen umfassen. Er beginnt mit dem Legislativvorschlag der KOM, den sie gestützt auf ihr alleiniges Initiativrecht dem EP und dem Rat vorlegt. Nach Überweisung und Beratung in den Ausschüssen des EP, wird in erster Lesung über den Entwurfstext und ggf. Änderungsvorschläge daran abgestimmt. Der abgestimmte Text (Standpunkt des EP) wird dem Rat übermittelt. Billigt der Rat in seiner ersten Lesung diesen Standpunkt mit qualifizierter Mehrheit, ist der Rechtsetzungsvorschlag erlassen. Weicht die Auffassung des Rates vom Standpunkt des EP ab, nimmt er seine Änderungsvorschläge in einem "gemeinsamen Standpunkt des Rates" mit Begründungen an und legt diesen dem EP zu dessen zweiter Lesung vor. In zweiter Lesung kann das EP drei Verfahrenswege einschlagen: Nimmt es den „gemeinsamen Standpunkt des Rates“ mit einfacher Mehrheit an, ist der Rechtsetzungsvorschlag in dieser Form erlassen. Der Vorschlag ist gescheitert, wenn das EP den "gemeinsamen Standpunkt" mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder ablehnt. Drittens kann das EP den „gemeinsamen Standpunkt des Rates“ mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder erneut ändern. Nach Stellungnahme durch die KOM zu diesen Änderungsvorschlägen des EP kann der Rat den Legislativvorschlag in der Fassung des EP in zweiter Lesung mit qualifizierter Mehrheit7 annehmen; damit ist der Rechtsetzungsakt erlassen. Lehnt der Rat die Änderungen des EP ab, muss ein Vermittlungsausschuss angerufen werden. Der Vermittlungsausschuss - je zur Hälfte aus Vertretern des EP und des Rates gebildet - versucht, auf der Grundlage des vom EP in zweiter Lesung geänderten Rechtsetzungsvorschlags innerhalb einer Frist von sechs Wochen einen "gemeinsamen Entwurf" zu finden. Kommt eine Einigung nicht zustande, ist der Rechtsetzungsvorschlag gescheitert. Konnten sich EP und Rat auf einen "gemeinsamen Entwurf" einigen, müssen sie diesem in dritter Lesung zustimmen. Hierfür bedarf es im EP der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder, im Rat der qualifizierten Mehrheit. Lehnen Rat oder EP den „gemeinsamen Entwurf“ ab, ist das Rechtsetzungsverfahren gescheitert. 4. Besondere Rechte des EP im Rahmen der Anleihefinanzierung des NGEU sowie bei der Durchführung der ARF Über seine grundlegenden parlamentarischen Befugnisse und Kontrollrechte8 hinaus bestehen für das EP im Rahmen der Anleihefinanzierung des NGEU lediglich Unterrichtungsrechte. Bei der Durchführung der ARF werden dem EP dagegen umfangreichere Rechte eingeräumt. 4.1. Anleihefinanzierung des NGEU Aus den die Anleihefinanzierung des NGEU betreffenden Bestimmungen des EMB ergeben sich Unterrichtungsrechte des EP gegenüber der KOM. So legt Art. 5 Abs. 1. S. 4 EMB fest, dass die 6 Der Ablauf des Rechtsetzungsverfahrens ist im Legislative Observatory des EP nachzuvollziehen, vgl. EP, OEIL, Ref. 2020/0104(COD) Recovery and Resilience Facility. 7 Hat die KOM die Änderungen des EP in ihrer Stellungnahme abgelehnt, bedarf es für die Entscheidung des Rates der Einstimmigkeit, um den Rechtsakt in der vom EP veränderten Fassung zu erlassen. 8 Für einen Überblick vgl. Europäisches Parlament, Das Europäische Parlament: Befugnisse, Strasbourg, 2021. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Sachstand PE 6 - 3000 - 016/21 Seite 6 KOM dem EP und dem Rat den jährlich auf der Grundlage eines festen Deflators von 2 % pro Jahr angepassten Betrag der im Namen der Union getätigten Mittelaufnahme an den Kapitalmärkten mitteilt. Gemäß Art. 5 Abs. 3 EMB unterrichtet die KOM das EP und den Rat regelmäßig und umfassend über alle Aspekte ihrer Schuldenmanagementstrategie. Sie übermittelt dem EP und dem Rat jährlich den von ihr erstellten Emissionszeitplan mit den voraussichtlichen Emissionsterminen und -volumina für das bevorstehende Jahr sowie einen Plan mit den voraussichtlichen Tilgungs- und Zinszahlungen. 4.2. Durchführung der ARF Die dem EP in der ARF-Verordnung eingeräumten Informations- und Mitwirkungsrechte umfassen u.a.: Unterrichtungsrecht des EP über Maßnahmen zur Verknüpfung der Fazilität mit einer ordnungsgemäßen wirtschaftspolitischen Steuerung, insbesondere über die Aussetzung von Mittelbindungen oder Zahlungen; Recht auf eine Erörterung mit der KOM in strukturiertem Dialog und Äußerungsrecht des EP (Art. 10 Abs. 7); Verpflichtung der KOM zur Vorlage eines Überprüfungsberichts über die Durchführung der Fazilität zum 31. Juli 2022 (Art. 16); Verpflichtung der KOM zur Übermittlung der von den Mitgliedstaaten vorgelegten Aufbauund Resilienzpläne (ARP) und der von der KOM veröffentlichten Vorschläge für Durchführungsbeschlüsse des Rates nach Art. 20 Abs. 1 (Art. 25 Abs. 1); Verpflichtung der KOM, dem EP sämtliche dem Rat und seinen Vorbereitungsgremien übermittelten Informationen zur Verordnung und ihrer Durchführung zur Verfügung zu stellen (Art. 25 Abs. 2); Mitteilungspflicht vorläufiger Monitoringerkenntnisse der KOM (Erreichung der ARP-Etappenziele und -Zielwerte) gegenüber dem zuständigen Ausschuss des EP (Art. 25 Abs. 4); Recht des zuständigen EP-Ausschusses auf Erörterung mit der KOM (im Zwei-Monats-Rhythmus ) zu verschiedenen Aspekten der Verordnung und ihrer Durchführung, u.a. Stand der Aufbau-, Resilienz- und Anpassungskapazitäten in der Union und die ARP der Mitgliedstaaten ; Möglichkeit der Verabschiedung von Standpunkten des EP zu diesen Themen, Maßgabewirkung dieser Standpunkte und weiterer Entschließungen des EP für die KOM (Art. 26); Verpflichtung der KOM zur Vorlage eines Jahresberichts über die Durchführung der ARF (Art. 31); Verpflichtung der KOM zur Übermittlung von Evaluierungsberichten über die Durchführung der ARF zum 20. Februar 2024 (ongoing) und zum 31. Dezember 2028 (ex-post) (Art. 32). Das EP hat keinen rechtlichen Einfluss auf die dem Rat vorbehaltene Annahme der ARP oder deren Änderung. Dies geschieht auf Vorschlag der KOM mittels Durchführungsbeschlüssen des Rates ohne eine direkte Beteiligung des EP (Art. 20 und 21). - Fachbereich Europa -