© 2018 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 15/18 Abschaffung von Binnenschifffahrtsgebühren und EU-Beihilferecht Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Diese Ausarbeitung dient lediglich der bundestagsinternen Unterrichtung, von einer Weiterleitung an externe Stellen ist abzusehen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 15/18 Seite 2 Abschaffung von Binnenschifffahrtsgebühren und EU-Beihilferecht Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 15/18 Abschluss der Arbeit: 2.2.2018 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 15/18 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Überblick über das EU-Beihilferecht 4 2.1. Materielles EU-Beihilferecht 4 2.2. EU-Beihilfeverfahren 5 2.2.1. Vorabnotifizierung und Beihilfeverfahren 5 2.2.2. Gruppenfreistellungsverordnungen und ex-post-Kontrolle 6 3. Abschaffung von Binnenschifffahrtsgebühren 7 3.1. Materielle Bewertung im Lichte des Art. 107 Abs. 1 AEUV 7 3.1.1. Aus staatlichen Mitteln gewährte Begünstigung 7 3.1.2. Selektivität 8 3.1.3. Auswirkungen auf Handel und Wettbewerb – De-minimis- Beihilfen 10 3.1.4. Ergebnis 11 3.2. Verfahrensrechtliche Aspekte 11 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 15/18 Seite 4 1. Fragestellung Der Fachbereich wird um Beantwortung der Frage ersucht, welche EU-rechtlichen Hürden bei einer eventuellen Abschaffung der Gebühren für die Binnenschifffahrt bestehen. Dabei soll von einer diskriminierungsfreien Ausgestaltung der Abschaffung ausgegangen werden. Hiervon ausgehend dürfte unter wettbewerbsrechtlichen Gesichtspunkten allein das EU-Beihilferecht von Bedeutung sein. Verkehrsspezifische Regelungen auf Grundlage der EU-Verkehrspolitik (Art. 90 bis 100 AEUV) oder andere Bestimmungen des EU-Rechts, die vorliegend zu beachten wären, sind nicht ersichtlich. Im Folgenden wird zunächst ein kurzer Überblick über das Beihilferecht gegeben (2.), bevor dann auf die Abschaffung der Binnenschifffahrtsgebühren am Maßstab des Beihilferechts eingegangen wird (3.). 2. Überblick über das EU-Beihilferecht Das EU-Beihilferecht lässt sich in materielle (2.1.) und formal-verfahrensrechtliche Bestimmungen (2.2.) aufteilen. 2.1. Materielles EU-Beihilferecht Den materiellen Kern des EU-Beihilferechts bildet das an die Mitgliedstaaten gerichtete grundsätzliche Verbot staatlicher Beihilfen. Nach Art. 107 Abs. 1 AEUV sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Binnenmarkt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen . Diesem Normtext werden mehrere Merkmale entnommen, die kumulativ erfüllt sein müssen, um von dem Vorliegen einer Beihilfe ausgehen zu können: Neben der aus staatlichen Mitteln gewährten Begünstigung gehören hierzu die Selektivität (Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige), die Wettbewerbsverfälschung und die Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels.1 Fehlt es nur an einem der Merkmale, so liegt keine Beihilfe nach Art. 107 Abs. 1 AEUV vor und das EU-Beihilferecht findet keine Anwendung.2 1 Siehe zu den einzelnen Merkmalen und der dazu ergangenen Rechtsprechung die sog. Beihilfemitteilung der Kommission: Bekanntmachung der Kommission zum Begriff der staatlichen Beihilfe im Sinne des Artikels 107 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl.EU 2016 Nr. C 262/1, online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52016XC0719(05)&from=DE (letztmaliger Abruf unter 05.02.18). In dieser Mitteilung erläutert die Kommission unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH die einzelnen Merkmale des Beihilfetatbestandes. 2 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 24.07.2003, Rs. C-280/00 (Altmark Trans), Rn. 74, mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 15/18 Seite 5 Sind die Merkmale des Art. 107 Abs. 1 AEUV hingegen erfüllt, so ist dies nicht gleichbedeutend mit einer Unionsrechtswidrigkeit der betreffenden nationalen Maßnahme. Denn das darin geregelte Beihilfeverbot gilt nicht absolut, sondern nur insoweit, als in den Verträgen nichts anderes bestimmt ist. Zu diesen „anderen Bestimmungen“ zählt vor allem Art. 107 Abs. 3 AEUV.3 Danach können Beihilfen unter bestimmten Voraussetzungen als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen und insoweit gerechtfertigt werden (Ermessensausnahme). 2.2. EU-Beihilfeverfahren Der Vollzug des EU-Beihilferechts obliegt auf Grundlage von Art. 108 AEUV vor allem der Kommission .4 In verfahrenstechnischer Hinsicht sind dabei zwei Ansätze zu unterscheiden: eine primärrechtlich angelegte ex-ante-Prüfung (siehe unter 2.2.1.) und eine sekundärrechtlich geprägte ex-post-Kontrolle (siehe unter 2.2.2.). 2.2.1. Vorabnotifizierung und Beihilfeverfahren Nach Art. 108 Abs. 2 und 3 AEUV sowie der sekundärrechtlichen Konkretisierung in Gestalt der Beihilfenverfahrensordnung (Beihilfe-VerfO)5 können mitgliedstaatliche Vorhaben zum einen vorab (präventiv) überprüft werden. Verfahrensrechtlicher Ausgangspunkt ist hierbei die Pflicht der Mitgliedstaaten, Beihilfen vor ihrer Einführung bei der Kommission anzumelden (Notifizierungspflicht , vgl. Art. 108 Abs. 3 S. 1 AEUV, Art. 2 Abs. 1 Beihilfe-VerfO). Diese prüft sodann, ob eine Beihilfe im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV vorliegt und – wenn das der Fall ist – ob sie insbesondere nach Art. 107 Abs. 3 AEUV gerechtfertigt werden kann (vgl. auch Art. 4, 6, 7 Beihilfe- VerfO). Erst im Anschluss hieran darf der betreffende Mitgliedstaat die Beihilfe gewähren (sog. Durchführungsverbot, vgl. Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV, Art. 3 Beihilfe-VerfO). Von hoher praktischer Bedeutung sind an dieser Stelle zahlreiche Sekundärrechtsakte, in denen die Kommission einerseits ihre Ermessenspraxis u. a. zur Auslegung des Art. 107 Abs. 3 AEUV und andererseits die beihilferechtliche Rechtsprechung der Unionsgerichte zum Beihilfetatbestand des Art. 107 Abs. 1 AEUV verschriftlicht hat, um die Rechtssicherheit (Vorhersehbarkeit) und Transparenz ihres Entscheidungsprozesses zu erhöhen.6 Zu diesen Rechtsakten gehören 3 Weitere primärrechtliche Vorschriften in diesem Zusammenhang sind Art. 107 Abs. 2 AEUV (zwingende Legalausnahmen ), Art. 93 AEUV für den Verkehrsbereich und Art. 106 Abs. 2 AEUV für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind oder den Charakter eines Finanzmonopols haben. 4 Zu den wenigen, zum Teil auf Ausnahmesituationen beschränkten Kompetenzen des Rates im EU-Beihilfenrecht nach Art. 107 Abs. 3 lit. e, Art. 108 Abs. 2 UAbs. 3 sowie Art. 109 AEUV, vgl. allgemein, Frenz, Handbuch Europarecht, Band 3: Beihilfe- und Vergaberecht, 2007, Rn. 1224 ff. 5 Verordnung (EU) Nr. 2015/1589 des Rates vom 13. Juli 2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 AEUV, ABl.EU 2015 Nr. L 248/9, online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32015R1589&from=DE (letztmaliger Abruf am 05.02.18). 6 Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 107 AEUV, Rn. 4. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 15/18 Seite 6 überwiegend nicht verbindliche Maßnahmen, die – ähnlich wie nationale Verwaltungsvorschriften – zumindest eine Selbstbindung der Kommission begründen.7 Derartige Maßnahmen werden in Form sog. (zum Teil bereichsspezifischer) Leitlinien, Unionsrahmen und Mitteilungen8 erlassen. Zu erwähnen ist hier vor allem die 2016 erlassene sog. Beihilfemitteilung , in welcher die Kommission den Beihilfetatbestand des Art. 107 Abs. 1 AEUV anhand der bisherigen Rechtsprechung erläutert.9 Beziehen sich die unverbindlichen Vorschriften auf die Rechtfertigungstatbestände des Art. 107 Abs. 3 AEUV, gewährleistet die Einhaltung der darin enthaltenen Vorgaben in der Regel einen positiven Ausgang des Beihilfeverfahrens. 2.2.2. Gruppenfreistellungsverordnungen und ex-post-Kontrolle Neben der primärrechtlich vorgegebenen (präventiven) ex-ante Kontrolle eröffnet das Primärrecht die Möglichkeit, Beihilfen auch ohne vorherige Anmeldung und Kommissionsüberprüfung zu gewähren, soweit bestimmte vorab bekannte materielle und formale Anforderungen eingehalten werden.10 Diese Anforderungen ergeben sich aus sog. Freistellungsverordnungen, die die Kommission u. a. auf Grundlage von Art. 108 Abs. 4 AEUV in Verbindung mit einer sie dazu ermächtigenden Verordnung des Rates im Sinne des Art. 109 AEUV erlassen kann.11 Bei Einhaltung der jeweiligen Vorgaben werden die Mitgliedstaaten von der Pflicht zur (vorherigen) Notifizierung des Beihilfevorhabens und seiner Vorab-Kontrolle nach Art. 108 Abs. 2 und 3 AEUV freigestellt. Die Kommission kann die gleichwohl zu meldende Gewährung solcher Beihilfen jedoch nachträglich kontrollieren. 7 Vgl. bspw. EuGH, Urt. v. 5.10.2000, Rs. C-288/96 (Deutschland/Deutschland), Rn. 62; EuGH, Urt. v. 7.03.2002, Rs. C-310/99 (Italien/Kommission), Rn. 52. 8 Ein Gesamtüberblick über die verschiedenen Rechtsakte findet sich auf den Seiten der Generaldirektion Wettbewerb der Kommission unter http://ec.europa.eu/competition/state_aid/legislation/compilation/index_de.html (Stand vom 15.04.2014, letztmaliger Abruf am 05.02.18). Zur Frage der Rechtsverbindlichkeit der ermessenskonkretisierenden Kommissionsakte, vgl. Frenz (Fn. 4), Rn. 747 ff. 9 Siehe oben Fn. 1. 10 Dieser Bereich des Beihilferechts wurde im Zuge der 2014 durchgeführten Beihilferechtsreform („State Aid Modernisation “) ausgebaut, vgl. Soltész, Das neue europäische Beihilferecht, NJW 2014, S. 3128 (3130). 11 Bei der Verordnung des Rates auf Grundlage von Art. 109 AEUV handelt es sich um die Verordnung (EG) Nr. 994/98 vom 7. Mai 1998 über die Anwendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf bestimmte Gruppen horizontaler Beihilfe, ABl.EG 1998 Nr. L 142/1, konsolidierte Fassung online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:01998R0994- 20130820&qid=1430746279772&from=DE – letztmaliger Abruf am 05.02.18. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 15/18 Seite 7 Zu erwähnen ist im vorliegenden Kontext vor allem die sog. De-Minimis-Verordnung, in der festgelegt wird, ab welchen Schwellenwerten der staatlichen Förderung das EU-Beihilferecht überhaupt zur Anwendung gelangt.12 Werden die Höchstgrenzen sowie die sonstigen Voraussetzungen eingehalten, dann sind die Maßnahmen nach Art. 3 Abs. 1 De-Minimis-VO von der Notifizierung nach Art. 108 Abs. 3 AEUV freigestellt. 3. Abschaffung von Binnenschifffahrtsgebühren Für die Beihilferelevanz der Abschaffung von Binnenschifffahrtsgebühren ist die materielle Qualifizierung am Maßstab des Beihilfetatbestandes gemäß Art. 107 Abs. 1 AEUV entscheidend (3.1.). Anschließend ist kurz auf verfahrensrechtliche Aspekte einzugehen (3.2.). 3.1. Materielle Bewertung im Lichte des Art. 107 Abs. 1 AEUV Eine Abschaffung von Gebühren für die Nutzung von Binnenschifffahrtswegen dürfte die Tatbestandsmerkmale der aus staatlichen Mitteln gewährten Begünstigung erfüllen (3.1.1.). Fraglich ist jedoch, ob eine vollständige Abschaffung auch das Merkmal der sog. Selektivität erfüllt, wonach die aus staatlichen Mitteln gewährte Begünstigung „bestimmten Unternehmen oder Produktionszweigen “ zugutekommen muss (3.1.2.). Zweifel bestehen sodann im Hinblick auf die Beihilfehöhe im Lichte der De-minimis-Verordnung (3.1.3.). 3.1.1. Aus staatlichen Mitteln gewährte Begünstigung Der Beihilfebegriff bezüglich der Begünstigung sowie der Staatlichkeit der hierfür eingesetzten Mittel erfasst nach ständiger Rechtsprechung „nicht nur positive Leistungen wie Subventionen […], sondern auch Maßnahmen, die in verschiedener Form die von einem Unternehmen normalerweise zu tragenden Belastungen vermindern und die somit zwar keine Subventionen im strengen Sinne des Begriffs darstellen, diesen aber nach Art und Wirkung gleichstehen […].“13 Dabei muss festgestellt werden, ob „ein hinreichend enger Zusammenhang zwischen dem Vorteil, der dem Begünstigten gewährt wird, einerseits und der Verringerung eines Postens des Staatshaushalts “ besteht.14 Die Abschaffung von Gebühren, die zum jetzigen Zeitpunkt zumindest auch von (Binnenschifffahrts -)Unternehmen entrichtet werden, würde auf der einen Seite Belastungen der betroffenen 12 Vgl. aktuelle die Verordnung (EU) Nr. 1407/2013 der Kommission vom 18. Dezember 2013 über die Anwendung der Art. 107 und 108 AEUV auf De-minimis-Beihilfen, ABl.EU 2013 Nr. L 352/1, online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32013R1407&qid=1417597248357&from=DE – letztmaliger Abruf am 05.02.18. 13 EuGH, Urt. v. 14.1.2015, Rs. C-518/13 (Eventech), Rn. 33, mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung. Siehe aus dem Schrifttum Götz, in: Daues/Ludwigs, EU-Wirtschaftsrecht, H. III. Staatliche Beihilfen (43. Ergslfg. 2017), Rn. 74. 14 Vgl. EuGH, Urt. v. 14.1.2015, Rs. C-518/13 (Eventech), Rn. 34. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 15/18 Seite 8 Unternehmen mindern, ohne dass diese hierfür eine Gegenleistung erbringen, und auf der anderen Seite zu Mindereinnahmen im Staatshaushalt führen, so dass von einer aus staatlichen Mitteln gewährten Begünstigung anzugehen wäre. 3.1.2. Selektivität Mit dem Tatbestandsmerkmal der Selektivität werden solche staatlichen Maßnahmen aus dem Beihilfetatbestand ausgeschlossen, die allgemein allen Wirtschaftsteilnehmern und damit in der Regel auch der Allgemeinheit zu Gute kommen.15 Beispielhaft verwiesen wird insoweit auf das Bildungs- und Hochschulsystem oder auch – wenngleich nur eingeschränkt – auf die Verkehrsinfrastruktur .16 Nach der Rechtsprechung des EuGH liegt eine beihilferechtlich relevante Selektivität dann vor, wenn „eine nationale Maßnahme im Rahmen einer bestimmten rechtlichen Regelung geeignet ist, ‚bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige‘ gegenüber anderen Unternehmen oder Produktionszweigen zu begünstigen, die sich im Hinblick auf das mit der betreffenden Regelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden […].“17 Diese Prüfung ist vor allem dann vorzunehmen, wenn es sich – wie hier bei einer generellen (gesetzlichen ) Abschaffung von Gebühren – um eine allgemeine Beihilfemaßnahme handelt und nicht um eine (konkret-indivduelle) Einzelbeihilfe.18 Insbesondere für Fallkonstellationen im Steuerrecht, in denen Steuererleichterungen etc. gewährt werden, hat sich auf Grundlage der Rechtsprechung eine dreiteilige Prüfung zur Feststellung der Selektivität herausgebildet, von der auch die Kommission in ihrer Beihilfemitteilung ausgeht.19 Danach muss „erstens das Bezugssystem ermittelt werden. Zweitens sollte festgestellt werden, ob eine bestimmte Maßnahme insofern eine Abweichung von diesem System darstellt, als sie zwischen Wirtschaftsbeteiligten differenziert, die sich unter Berücksichtigung der systemimmanenten Ziele in einer vergleichbaren Sach- und Rechtslage befinden. Die Feststellung, ob eine Abweichung vorliegt, ist das zentrale Element dieses Teils der Prüfung; sie lässt eine Schlussfolgerung darüber zu, ob die Maßnahme prima facie selektiv ist. Falls die Maßnahme keine Abweichung vom Bezugssystem darstellt, ist sie nicht selektiv. Falls sie aber eine Abweichung darstellt (und somit prima facie selektiv ist), muss drittens geprüft werden, ob die Abweichung durch die Natur 15 Vgl. etwa Götz, in: Daues/Ludwigs, EU-Wirtschaftsrecht (Fn. 13), Rn. 79. Siehe auch Cremer, in: Callies/Ruffert (Fn. 6), Art. 107 AEUV, Rn. 28; Kommission, Beihilfemitteilung (Fn. 1), Tz. 117. 16 Götz, in: Daues/Ludwigs, EU-Wirtschaftsrecht (Fn. 13), Rn. 79. Siehe zur Einschränkung allgemein Kommission, Beihilfemitteilung (Fn. 1), Tz. 118. Im Hinblick auf Infrastrukturen, vgl. Mestmäcker/Schweitzer, in: Immenga/Mastmäcker, Wettbewerbsrecht, Band 3, 5. Aufl. 2016, Art. 107 Abs. 1 AEUV, Rn. 176. 17 EuGH, Urt. v. 14.1.2015, Rs. C-518/13 (Eventech), Rn. 33, mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung. 18 Bei Einzelbeihilfen genügt bereits die Feststellung eines wirtschaftlichen Vorteils für die Annahme der Selektivität , vgl. Nowak, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar EUV, AEUV und GRC, 2017, Art. 107 AEUV, Rn. 39; Kommission, Beihilfemitteilung (Fn. 1), Tz. 126. Siehe zur Unterscheidung von Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen die Legaldefinitionen in Art. 1 Buchst. d und e Beihilfe-VerfO (Fn. 5). 19 Vgl. Kommission, Beihilfemitteilung (Fn. 1), Tz. 128. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 15/18 Seite 9 oder den allgemeinen Aufbau des (Bezugs-)Systems gerechtfertigt ist […]. Ist eine prima facie selektive Maßnahme durch die Natur oder den allgemeinen Aufbau des Systems gerechtfertigt, so wird sie nicht als selektiv angesehen und fällt daher nicht unter Artikel 107 Absatz 1 AEUV […].“20 Diese Prüfung zur Bestimmung der Selektivität gilt nach der Rechtsprechung auch für andere als steuerrechtliche Konstellationen.21 Entscheidende Bedeutung für die Anwendung dieser Gleichheitsprüfung kommt vorliegend dem ersten Prüfungsschritt zu, der Festlegung des Bezugssystems. In steuerrechtlichen Fällen wird in der Regel auf das jeweilige spezielle Steuerrecht abgestellt, aus dem sich die im Raum stehende Ausnahmeregelung ergibt, bspw. das Körperschaftssteuersystem, das Mehrwertsteuersystem etc.22 Vorliegend geht es um Gebühren für die Nutzung von Binnenschifffahrtswegen. Sieht man allein in dem Gebührensystem für diesen Verkehrsweg das Bezugssystem, so würde die Annahme der Selektivität auf der zweiten Stufe scheitern. Denn die Gebührenabschaffung soll umfassend sein und damit für alle Unternehmen gelten, die diesen Verkehrsweg nutzen. Es fehlte dann an einer Differenzierung zwischen Wirtschaftsbeteiligten, die sich in einer tatsächlich und rechtlich vergleichbaren Lage befinden und somit an einer Selektivität der Begünstigung.23 Würde man hingegen weitergehend auf das Gebührensystem für alle dem Gütertransport dienende Verkehrswege abstellen und insbesondere den Straßen- und Schienenverkehr einbeziehen, wäre auf zweiter Stufe zu prüfen, ob die Gebührenabschaffung auf Binnenschifffahrtswegen zu einer Ungleichbehandlung im Verhältnis zu Wirtschaftsbeteiligten führt, die die Verkehrswege Straße und Schiene nutzen und dort ggf. in Form von Maut oder Trassenpreisen Gebühren entrichten . Es wäre dann zu entscheiden, ob die betroffenen Unternehmen sich hinsichtlich der systemimmanenten Ziele des Bezugssystems in einer vergleichbaren Sach- und Rechtslage befinden. Eine solche Vergleichbarkeit ließe sich in tatsächlicher Hinsicht im Hinblick auf den Wettbewerb der Verkehrswege im Bereich des Gütertransports zwar bejahen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob dies der richtige Maßstab wäre bzw. ob ein so weites Verständnis im Hinblick auf das maßgebliche Gebührensystem den unterschiedlichen tatsächlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen der Verkehrswege sowie der auf ihnen tätigen Wirtschaftsbeteiligen im Gütertransportwesen gerecht würde. Vor diesem Hintergrund spricht viel dafür, das vorliegend maßgebliche Bezugssystem allein in dem Gebührenrecht für die Binnenschifffahrtswege zu sehen und eine Selektivität abzulehnen, wenn die Gebührenabschaffung allen hiervon betroffenen Wirtschaftsteilnehmern in gleicher Weise zugutekommt. Eine abschließende Entscheidung ist jedoch an dieser Stelle nicht möglich. 20 Kommission, Beihilfemitteilung (Fn. 1), Tz. 128. Vgl. dazu auch EuGH, Urt. v. 21.12.2016, Rs. C-524/14 P (Kommission/Hansestadt Lübeck), Rn. 54 ff. 21 Siehe hierzu EuGH, Urt. v. 21.12.2016, Rs. C-524/14 P (Kommission/Hansestadt Lübeck), Rn. 50 ff., in Bezug auf eine Flughafenentgeltordnung. 22 Vgl. Kommission, Beihilfemitteilung (Fn. 1), Tz. 134, mit den entsprechenden Hinweisen auf die Rechtsprechung . 23 Vgl. für entsprechende Fälle aus der Rechtsprechung und Kommissionspraxis Mestmäcker/Schweitzer, in: Immenga/Mastmäcker (Fn. 16), Art. 107 Abs. 1 AEUV, Rn. 172. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 15/18 Seite 10 Grund hierfür ist zum einen die Wertungsoffenheit dieser gleichheitsrechtlichen Selektivitätsprüfung und zum anderen das Fehlen – soweit ersichtlich – vergleichbarer Fälle in Rechtsprechung und Kommissionspraxis. Wäre aufgrund eines alle Verkehrswege erfassenden Bezugssystems im Ergebnis von einer Selektivität auszugehen, bedürfte es der weiteren Prüfung der Voraussetzungen des Beihilfetatbestandes nach Art. 107 Abs. 1 AEUV. 3.1.3. Auswirkungen auf Handel und Wettbewerb – De-minimis-Beihilfe Unterstellte man, dass die Abschaffung der Gebühren für die Nutzung von Binnenschifffahrtswegen selektiven Charakter hat, müssten eine Verfälschung des Wettbewerbs und eine Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels vorliegen. Im Vergleich mit den oben geprüften Beihilfemerkmalen des Art. 107 Abs. 1 AEUV kommt diesen beiden Merkmalen eine nur geringe Bedeutung zu. In der Regel werden sie zusammen geprüft und bejaht, wenn eine aus staatlichen Mitteln stammende selektive Begünstigung von Unternehmen vorliegt.24 Grund hierfür ist, dass der EuGH nur sehr geringe Anforderungen an das Vorliegen dieser beiden Merkmale stellt.25 Dessen ungeachtet hat die Kommission in der sog. De-minimis-Verordnung26 einen Betrag festgelegt , bis zu dessen Höhe davon ausgegangen wird, dass die betreffende Maßnahme nicht alle Beihilfemerkmale des Art. 107 Abs. 1 AEUV erfüllt, so dass sie von der Anmelde- bzw. Notifizierungspflicht nach Art. 108 Abs. 3 AEUV ausgenommen ist. Dieser Betrag liegt nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 1 De-minimis-VO bei 200.000 € pro Unternehmen in einem Zeitraum von drei Steuerjahren . Für den hier nicht betroffenen gewerblichen Straßengüterverkehr beträgt dieser Betrag (nur) 100.000 € pro Unternehmen und drei Steuerjahren (Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 De-minimis-VO). Eine Sonderregelung für den Binnenschifffahrtsgüterverkehr besteht nicht. In welcher Höhe einzelne Binnenschifffahrtsunternehmen Einsparungen durch die Abschaffung der Gebühren erzielen und ob diese unterhalb der genannten De-minimis-Schwelle liegen würden , lässt sich an dieser Stelle mangels entsprechender Informationen nicht beantworten. Wenn dies der Fall wäre, bestünde – eine Selektivität unterstellend – zumindest dem Grunde nach die Möglichkeit, das Vorliegen des Beihilfetatbestandes in Anwendung der De-minimis-Verordnung zu verneinen. Dies würde allerdings voraussetzen, dass die sonstigen (formalen) Voraussetzungen der De-minimis -Verordnung eingehalten werden. Die betrifft insbesondere zum einen die (formalen) Anforderungen des Art. 4 De-minimis-VO zur Berechnung des sog. Bruttosubventionsäquivalents, wonach es sich um transparente Beihilfen handeln muss, die im Voraus genau berechnet werden, 24 Vgl. Nowak, in: Pechstein/Nowak/Häde (Fn. 18), Art. 107 AEUV, Rn. 42, 43. 25 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 14.1.2015, Rs. C-518/13 (Eventech), Rn. 65 ff. Siehe auch Kommission, Beihilfemitteilung (Fn. 1), Tz. 186 ff. 26 Siehe oben Fn. 12. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 15/18 Seite 11 ohne dass eine Risikobewertung erforderlich ist (vgl. Abs. 1). Einschlägig wäre insoweit allein Absatz 7, wonach Beihilfen in anderen als in den in Art. 4 Abs. 1 bis 6 De-minimis-VO aufgeführten und hier nicht relevanten Formen dann als transparente De-minimis-Beihilfen gelten, wenn die Beihilfebestimmung eine Obergrenze vorsieht, die gewährleistet, dass der einschlägige Höchstbetrag nicht überschritten wird. Zum anderen müssten die Anforderungen aus Art. 6 De-minimis-VO zur Überwachung eingehalten werden, die u. a. mitgliedstaatliche Hinweispflichten vorsehen (vgl. Abs. 1). 3.1.4. Ergebnis Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Beihilfequalität einer Abschaffung der Binnenschifffahrtsgebühren Zweifel im Hinblick auf das Merkmal der in Art. 107 Abs. 2, 3 AEUV kodifizierten Selektivität aufwirft. Sieht man – mit guten Gründen – das maßgebliche Bezugssystem zur Prüfung der Selektivität eines solchen Vorhabens im Gebührensystem für die Binnenschifffahrt, so würde dieses Merkmal zu verneinen sein, da die Abschaffung der Gebühren allen betroffenen Unternehmen zugutekommen würde. Eine Beihilfe im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV läge dann nicht vor. Wäre das Merkmal der Selektivität hingegen zu bejahen, weil als Bezugssystem das Gebührensystem aller für den Gütertransport relevanten Verkehrswege gewählt würde, dann käme es entscheidend auf die Annahme der weiteren Beihilfemerkmale, der Wettbewerbsverfälschung und der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels, an. Hier könnte ggf. die De-miminis-Verordnung Anwendung finden, wonach Maßnahmen bis zu einem Wert von 200.000 € pro Unternehmen in drei Steuerjahren als nicht beihilferelevant angesehen und von der Notifizierung nach Art. 108 Abs. 3 AEUV freigestellt werden. Dies würde jedoch voraussetzen, dass die Anforderungen dieser Verordnung im Übrigen eingehalten werden, insbesondere hinsichtlich der Transparenz der Beihilfe sowie ihrer Überwachung. Wäre dies nicht möglich und im Ergebnis eine Beihilfe im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV anzunehmen , bestünde die Möglichkeit, sie auf einen der Rechtfertigungstatbestände zu stützen. In Betracht käme etwa Art. 107 Abs. 3 AEUV, wonach Beihilfen zur Förderung der Entwicklung gewisser Wirtschaftszweige möglich sind, soweit diese die Handelsbedingungen nicht in einer Weise verändern, die dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft. Aufgrund der allgemein gehaltenen Fragestellung und mangels konkreter Angaben zu den Zielen und Beweggründen der Gebührenabschaffung einerseits sowie der Zweifel am Vorliegen der Selektivität andererseits wird im Folgenden von weiteren Ausführungen zu einer eventuellen Rechtfertigung abgesehen. 3.2. Verfahrensrechtliche Aspekte Die Sicherstellung der beihilferechtlichen Zulässigkeit eines solchen Vorhabens könnte im Wege der (Vorab-)Notifizierung nach Art. 108 Abs. 3 AEUV erreicht werden. Hier kann die Kommission sowohl feststellen, dass keine Beihilfe vorliegt, als auch – bei abweichender Beurteilung – prüfen, ob sie nach Art. 107 Abs. 3 AEUV gerechtfertigt werden kann.27 Im Fall der Anwendung 27 Siehe dazu oben unter 2.2.1., S. 5 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 15/18 Seite 12 der De-minimis-Verordnung käme hingegen eine Freistellung nach ihrem Art. 3 Abs. 1 in Betracht . Die eventuelle Einschlägigkeit anderer Freistellungsverordnungen hinge hingegen von den Zielen und der Ausgestaltung der Gebührenabschaffung ab. – Fachbereich Europa –