PE 6 – 3000 – 15/13 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Deutscher Bundestag Ausarbeitung Möglichkeiten zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer im Falle des Scheiterns der Verhandlungen bei der Durchführung der Verstärkten Zusammenarbeit PE 6 – 3000 – 15/13 Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 2 Fachbereich Europa PE 6 – 3000 – 15/13 Möglichkeiten zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer im Falle des Scheiterns der Verhandlungen bei der Durchführung der Verstärkten Zusammenarbeit Aktenzeichen: PE 6 – 3000 – 15/13 Abschluss der Arbeit: 19.02.2013 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Hausleitung Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 3 Fachbereich Europa PE 6 – 3000 – 15/13 Inhaltsverzeichnis 1 . E i n l e i t u n g 4 2 . Neuer Legislativvorschlag durch die Kommission? 6 3 . Ausscheiden aus der Verstärkten Zusammenarbeit? 6 3.1. Freiwilliges Ausscheiden? 7 3.1.1. Ausscheiden im Konsens 7 3.1.2. Einseitiges Ausscheiden? 8 3.2. Ausschluss aus der VZ? 10 3.3. Faktisches Ausscheiden aus der VZ 11 4 . Neuer Beschluss über eine Verstärkte Zusammenarbeit in anderer Zusammensetzung? 12 5 . Möglichkeit eines nationalen Alleingangs? 12 5.1. Vereinbarkeit mit europäischem Sekundärrecht 12 5.1.1. Grundsätzliches Verbot der Erhebung indirekter Steuern (Art. 5 Richtlinie 2008/7/EG) 13 5.1.2. Ausnahmen vom generellen Verbot (Art. 6 Richtlinie 2008/7/EG) 13 5.1.3. Ergebnis 16 5.2. Vereinbarkeit mit der primärrechtlichen Kapitalverkehrsfreiheit 16 5.2.1. Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit 16 5.2.2. Grenzüberschreitender Sachverhalt 17 5.2.3. Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit 17 5.2.4. Rechtfertigung 17 5.2.4.1. Rechtfertigungsgrund 18 5.2.4.2. Rechtfertigungsschranken: Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 19 5.2.5. Ergebnis 22 5.3. Erfordernis der vorherigen Beendigung der VZ? 22 5.4. Ergebnis 23 6 . Außervertragliche Kooperat ion 23 7 . Z u s a m m e n f a s s u n g 24 Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 4 Fachbereich Europa PE 6 – 3000 – 15/13 1. Einleitung Nachdem sich die Mitgliedstaaten der EU nicht auf ein gemeinsames System der Finanztransaktionssteuer in der EU als Ganzes einigen konnten1, haben im Herbst 2012 elf Mitgliedstaaten (Belgien, Deutschland, Estland, Griechenland, Spanien, Frankreich, Italien, Österreich, Portugal, Slowenien und die Slowakische Republik) die Kommission gemäß Art. 329 Abs. 1 AEUV ersucht, einen Vorschlag für einen Beschluss des Rates über die Ermächtigung zur VZ gemäß Art. 20 EUV i.V.m. Art. 326ff. AEUV in diesem Zusammenhang vorzulegen. Am 23. Oktober 2012 hat die Kommission dem Rat einen entsprechenden Vorschlag unterbreitet.2 Diesem hat das Europäische Parlament am 12. Dezember 2012 zugestimmt.3 Am 22. Januar 2013 hat der Rat schließlich den Beschluss über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Finanztransaktionssteuer 4 gefasst. Vollzogen wird die Verstärkte Zusammenarbeit (VZ) als Kooperation der beteiligten Mitgliedstaaten unter Inanspruchnahme der im EUV bzw. AEUV vorgesehenen Organe, Handlungsinstrumente und Verfahrensvorschriften (vgl. Art. 20 Abs. 1 EUV). Die zur Durchführung der VZ erlassenen Rechtsakte haben die Rechtsnatur und Wirkungsweise, die das Unionsrecht den betreffenden Maßnahmen auch sonst zuweist.5 Sie sind unmittelbar anwendbar und haben Anwendungsvorrang gegenüber nationalem Recht6, sie binden aber nur die an der VZ beteiligten Staaten . Es handelt sich um sekundäres Sonderrecht.7 1 Zum Hintergrund vgl. Europäische Kommission, Besteuerung des Finanzsektors, online abrufbar unter http://ec.europa.eu/taxationcustoms/taxation/othertaxes/financialsector/indexde.htm, zuletzt abgerufen am 13.02.2013. 2 Vorschlag für einen Beschluss des Rates über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Finanztransaktionssteuer, COM (2012) 631 final, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2012:0631:FIN:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 13.02.2013. 3 Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments vom 12. Dezember 2012 zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Finanztransaktionssteuer (COM(2012)0631 – C7-0396/2012 – 2012/0298(APP)), online abrufbar unter http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=- //EP//TEXT+TA+20121212+ITEMS+DOC+XML+V0//DE&language=DE#sdocta14, zuletzt abgerufen am 13.02.2013. 4 Beschluss des Rates vom 22. Januar 2013 über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Finanztransaktionssteuer (2013/52/EU), ABl. L 22/11 vom 25.01.2013, online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2013:022:0011:0012:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 13.02.2013. 5 Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 8. Auflage 2012, Rn. 83. 6 Pechstein, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Auflage 2012, Art. 20 EUV, Rn. 16. 7 Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 8. Auflage 2012, Rn. 83. PE 6 – 3000 – 15/13 Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 5 Fachbereich Europa PE 6 – 3000 – 15/13 Entsprechend hat die Kommission am 14. Februar 2013 einen Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Umsetzung der Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Finanztransaktionssteuer vorgelegt.8 Dieser spiegelt Anwendungsbereich und Ziele des Richtlinienvorschlages der Kommission aus dem Jahre 2011 über ein gemeinsames System zur Finanztransaktionssteuer9 wider und ist auf die Rechtsgrundlage des Art. 113 AEUV gestützt.10 Nach dieser Vorschrift muss der Rat über den Richtlinienvorschlag der Kommission in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschuss einstimmig beschließen. Gemäß Art. 330 Abs. 2 AEUV bezieht sich die Einstimmigkeit nur auf die Stimmen der Vertreter der an der VZ beteiligten Mitgliedstaaten. An den Beratungen im Rat können aber alle 27 Mitgliedstaaten der EU – auch die nicht an der VZ beteiligten – teilnehmen. Nach Art. 333 Abs. 1 AEUV hat der Rat die Möglichkeit, einstimmig einen Beschluss dahingehend zu erlassen, dass er über die Durchführungsmaßnahmen, hier die Richtlinie über die gemeinsame Finanztransaktionssteuer mit qualifizierter Mehrheit beschließt. Nach Art. 333 Abs. 2 kann er nach Anhörung des Europäischen Parlaments auch beschließen, die Richtlinie nicht in dem in Art. 113 AEUV vorgesehenen besonderen, sondern im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nach Art. 289 AEUV zu erlassen. Bislang gibt es keine Anzeichen, dass im ECOFIN ein solches Vorgehen nach der sog. passerelle bzw. Brücken- Klausel11 des Art. 333 AEUV vorgesehen ist. Es ist folglich zum jetzigen Zeitpunkt davon auszugehen, dass über die Richtlinie zur Umsetzung der Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Finanztransaktionssteuer nach Anhörung von Europäischem Parlament und Wirtschafts- und Sozialausschuss ein einstimmiger Ratsbeschluss bezogen auf die an der VZ teilnehmenden Mitgliedstaaten erlassen werden muss. Gegenstand dieser Ausarbeitung ist die Frage, welche Möglichkeiten für die Einführung einer Finanztransaktionssteuer in (Teilen) Europa(s) es für den hypothetischen Fall gibt, dass ein solcher einstimmiger Ratsbeschluss der an der VZ beteiligten Mitgliedstaaten nicht zustande kommt. Geprüft wird zunächst, ob es der Kommission möglich ist, einen neuen Legislativvorschlag zu unterbreiten (2.). Im Anschluss wird der Frage nachgegangen, ob an der VZ teilnehmende Mitgliedstaaten aus dieser ausscheiden können (3.), ob eine neuer Beschluss über eine VZ 8 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Umsetzung einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Finanztransaktionssteuer, Com (2013) 71 final, online abrufbar unter http://ec.europa.eu/taxationcustoms/resources/documents/taxation/com201371de.pdf, zuletzt abgerufen am 18.02.2013. 9 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das gemeinsame Finanztransaktionssteuersystem und zur Änderung der Richtlinie 2008/7/EG, online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2011:0594:FIN:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 13.02.2013. 10 Im Einzelnen zu den wesentlichen Unterschieden zwischen beiden Vorschlägen vgl. European Commission, MEMO/13/98, Financial Transaction Tax through Enhanced Cooperation: Questions and Answers, online abrufbar unter http://europa.eu/rapid/press-releaseMEMO-13-98en.htm, zuletzt abgerufen am 14.02.2013. Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 6 Fachbereich Europa PE 6 – 3000 – 15/13 11 Blanke, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 48. Ergänzungslieferung, 2012, Art. 333 AEUV, Rn. 3. PE 6 – 3000 – 15/13 Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 7 Fachbereich Europa PE 6 – 3000 – 15/13 durch eine anders zusammengesetzte Gruppe von Mitgliedstaaten möglich ist (4.), ob für einzelne Mitgliedstaaten die Möglichkeit eines nationalen Alleingangs hinsichtlich der Einführung einer Finanztransaktionssteuer besteht (5.) und schließlich ob gegebenenfalls eine außervertragliche Kooperation auf der Ebene des Völkerrechts in Betracht kommt (5.3.). 2. Neuer Legislativvorschlag durch die Kommission? Die Kommission hat grundsätzlich das Vorschlagsrecht für Gesetzgebungsvorhaben und damit ein weitgehendes legislatives Initiativmonopol.12 Dies steht ihr auch im Rahmen des besonderen Gesetzgebungsverfahrens nach Art. 113 AEUV zu. Im weiteren Gesetzgebungsverfahren ist die Kommission jedoch – anders als beim ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nach Art. 294 AEUV – nicht beteiligt.13 Gemäß Art. 293 AEUV bleibt sie aber „Herrin ihrer Vorschläge“14. So kann sie nach Art. 293 Abs. 2 AEUV ihren Vorschlag jederzeit im Verlauf der Verfahren zur Annahme eines Rechtsakts der Union ändern, solange ein Ratsbeschluss nicht ergangen ist. Diese Regelungen gelten auch für Gesetzgebungsverfahren im Rahmen einer VZ (vgl. Art. 20 Abs. 1 EUV). In den Art. 20 EUV und 326 ff. AEUV sind insbesondere keine Sonderregelungen hinsichtlich des Vorschlagsrechts enthalten. Sollten also die an der VZ beteiligten Mitgliedstaaten sich in den Verhandlungen über den Kommissionsvorschlag nicht einigen können, so kann die Kommission jederzeit einen neuen Legislativvorschlag vorlegen. Zu beachten ist, dass für jeden neuen Vorschlag eine erneute Anhörung des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses notwendig ist (vgl. Art. 113 AEUV). 3. Ausscheiden aus der Verstärkten Zusammenarbeit? Sollte es zwischen den an der VZ beteiligten elf Mitgliedstaaten nicht zu einer Einigung hinsichtlich des Richtlinientextes zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer kommen, ist fraglich, ob jene Staaten, die dem jeweiligen Vorschlag nicht zustimmen wollen, aus der Verstärkten Zusammenarbeit ausscheiden und so den Weg zu einem Erlass der Richtlinie durch die anderen teilnehmenden Mitgliedstaaten frei machen könnten. 12 Krajewski/Rösslein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 48. EL, 2012, Art. 289, Rn. 26. 13 Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Auflage, 2011, Art. 289 AEUV, Rn. 3. Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 8 Fachbereich Europa PE 6 – 3000 – 15/13 14 Krajewski/Rösslein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 48. EL, 2012, Art. 293, Rn. PE 6 – 3000 – 15/13 Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 9 Fachbereich Europa PE 6 – 3000 – 15/13 Die Frage weist Parallelen zur früher ungeklärten Zulässigkeit eines Ausscheidens eines Mitgliedstaates aus der EU/EG15 und zu der Frage der Zulässigkeit eines Ausscheidens aus der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion (Eurozone) auf. Gemäß Art. 50 EUV, der mit dem Vertrag von Lissabon eingeführt wurde, besteht neben dem mit der EU konsensual vereinbarten Austritt nun auch ein einseitiges Austrittsrecht aus der EU insgesamt.16 Hinsichtlich eines Ausscheidens aus der WWU besteht angesichts einer fehlenden ausdrücklichen Regelung in den Verträgen weiterhin Streit.17 Auch im Bereich der Verstärkten Zusammenarbeit fehlt eine Regelung über das Ausscheiden eines Mitgliedstaates, während der Beitritt in Art. 331 AEUV ausdrücklich geregelt ist. Im Schrifttum wird die Frage nach der Zulässigkeit eines Ausscheidens aus einer VZ aber nur am Rande diskutiert18 und der EuGH war mit ihr – angesichts der wenigen Anwendungsfälle einer VZ in der Vergangenheit - bislang nicht befasst. Für eine Beantwortung gilt es zunächst zwischen einem freiwilligen Ausscheiden (Austritt) und einem Ausschluss eines „blockierenden“ Mitgliedstaates zu unterscheiden. 3.1. Freiwilliges Ausscheiden? Die Frage des freiwilligen Ausscheidens eines Mitgliedstaates aus einer VZ ist nicht ausdrücklich geregelt. Auch im hier konkret vorliegenden Ermächtigungsbeschluss des Rates ist das spätere Ausscheiden eines Mitgliedstaates nicht vorgesehen. Daraus folgt aber nicht zwangsläufig, dass ein Ausscheiden europarechtlich unzulässig ist. 3.1.1. Ausscheiden im Konsens Rechtlich unproblematisch dürfte die einverständliche Entlassung aus einer VZ unter Zustimmung aller 27 EU Mitgliedstaaten sein.19 Es gibt keine Regelung im EUV oder AEUV, die den Mitgliedstaaten verbieten würde, einstimmig eine Verkleinerung des Kreises der an einer VZ teilnehmenden Mitgliedstaaten zu beschließen. 15 Vgl. zur Debatte über die Zulässigkeit des Austritts aus der EU vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon: Bruha/Nowak, Recht auf Austritt aus der Europäischen Union?, AVR (42) 2004, S. 1 ff. m.w.N.; Zeh, Recht auf Austritt, Zeitschrift für Europarechtliche Studien (ZEuS) 2004, S. 173 (176 ff.). 16 Athanassiou, Withdrawal and Expulsion from the EU and EMU – Some Reflections, in: EZB (Hrsg.), Legal Working Paper Series, No 10, December 2009, S. 24, online abrufbar unter http://www.ecb.int/pub/pdf/scplps/ecblwp10.pdf (zuletzt abgerufen am 18.02.2013). 17 Vgl. dazu etwa Herrmann, Griechische Tragödie – der währungsverfassungsrechtliche Rahmen für die Rettung, den Austritt oder den Ausschluss von überschuldeten Staaten aus der Eurozone, EuZW 2010, S. 413ff. oder die Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 144/12 – Fragen zu einem etwaigen Ausscheiden Griechenlands aus der Euro- Zone - Rechtliche Rahmenbedingungen für ein Ausscheiden aus der Eurozone und/oder aus der EU vom 14.09.2012 von Andrea Eriksson. 18 Vgl. etwa Derpa, Die verstärkte Zusammenarbeit im Recht der Europäischen Union, 2003, S. 225; Gieser, Flexible Integration in der Europäischen Union: Neue Dynamik oder Gefährdung der Rechtseinheit?, 2003, S. 154/155; Thym, Ungleichzeitigkeit und europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 245 bei Fn. 57, Blanke, in: Grabitz /Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 48. EL, 2012, Art. 20 EUV, Rn. 53. 19 Vgl. Blanke, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 48. Ergänzungslieferung 2012, Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 10 Fachbereich Europa PE 6 – 3000 – 15/13 Art. 20 EUV, Rn. 53, der aber nur von einverständlichem Ausscheiden spricht, ohne zu spezifizieren welche Mitgliedstaaten zustimmen müssen. PE 6 – 3000 – 15/13 Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 11 Fachbereich Europa PE 6 – 3000 – 15/13 Der hiesige Ratsbeschluss über die Ermächtigung zu einer VZ wurde ohne Gegenstimmen und unter Enthaltung der Vertreter aus der Tschechischen Republik, Luxemburg, Malta und Großbritannien gefasst.20 Der Rat hat damit den 11 konkret genannten Mitgliedstaaten die Ermächtigung erteilt, sich im Rahmen der VZ auf ein gemeinsames System der Finanztransaktionssteuer zu verständigen. Eine Ermächtigung für 11 Mitgliedstaaten minus X liegt nicht vor. Entsprechend kann es nach hiesiger Auffassung für eine einverständliche Entlassung nicht ausreichen, dass nur die an der Verstärkten Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten dem Ausscheiden eines Staates zustimmen. Denn es kann nicht von vornherein davon ausgegangen werden, dass der Ratsbeschluss über die Ermächtigung zur VZ zustande gekommen wäre, wenn der eine oder andere Mitgliedstaat nicht Teilnehmer der VZ gewesen wäre. Zur „Umsetzung“ der einverständlichen Entlassung eines Mitgliedstaates ist einerseits denkbar, dass der Rat den ursprünglichen Ermächtigungsbeschluss aufhebt und eine neue Ermächtigung über eine VZ in kleinerem Kreis nach Art. 329 AEUV beschließt. Es dürfte aber auch ein einstimmiger Ratsbeschluss über das Ausscheiden eines Mitgliedstaates aus einer VZ rechtlich zulässig sein. 3.1.2. Einseitiges Ausscheiden? Teilweise wird auch das einseitige freiwillige Ausscheiden (Austritt) als actus contrarius zum Beitritt als möglich angesehen.21 Gegen die rechtliche Zulässigkeit des einseitigen Austritts lässt sich anführen, dass angesichts des Fehlens einer vertraglichen Regelung und der Tatsache, dass der Beitritt so detailliert geregelt wurde, nur schwer vorstellbar ist, dass eine Regelung über das Ausscheidens übersehen worden ist.22 Daraus lässt sich durchaus schließen, dass die Vertragsparteien einen Austritt bewusst nicht vorsehen wollten. Weiter wurde als Gegenargument angeführt, dass der Vergleich mit anderen Beispielen von Flexibilität bzw. differenzierter Integration wie etwa dem Sozialprotokoll , der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) und dem Schengener Abkommen gegen die Zulässigkeit eines einseitigen Ausscheidens spreche, da auch in diesen Fällen keine Möglichkeit zum Ausstieg bestehe. 23 Hiergegen spricht aber, dass es insbesondere für den Ausstieg aus der dritten Stufe der WWU durchaus valide Argumente für die Zulässigkeit eines 20 Vgl. Pressemitteilung des Rates vom 22.01.2013 (5555/13), online abrufbar unter http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cmsdata/docs/pressdata/en/ecofin/134949.pdf, zuletzt abgerufen am 18.02.2013. 21 So Thun-Hohenstein, Vertrag von Amsterdam, S. 126f.; Blanke, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 48. Ergänzungslieferung 2012, Art. 20 EUV, Rn. 53. A.A. Grieser, Flexible Integration in Europäischen Union: Neue Dynamik oder Gefährdung der Rechtseinheit?, 2003, S. 154; Derpa, Die Verstärkte Zusammenarbeit im Recht der Europäischen Union, 2003, S. 225. 22 Grieser, Flexible Integration in Europäischen Union: Neue Dynamik oder Gefährdung der Rechtseinheit?, 2003, S. 154. 23 Grieser, Flexible Integration in Europäischen Union: Neue Dynamik oder Gefährdung der Rechtseinheit?, 2003, S. 154. PE 6 – 3000 – 15/13 Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 12 Fachbereich Europa PE 6 – 3000 – 15/13 einseitigen Ausscheidens gibt.24 Zudem haben die Vertragsparteien im Lissabon Vertrag auch nicht ausdrücklich geregelt, dass ein Ausscheiden aus einer Verstärkten Zusammenarbeit ausgeschlossen sein soll. Entsprechend lässt sich durchaus auch argumentieren, dass die Mitgliedstaaten sich bei Vertragsschluss schlicht keine Gedanken über das Ausscheiden aus einer Verstärkten Zusammenarbeit gemacht und diesen Fall aus diesem Grunde nicht geregelt haben: Schließlich geht die Grundkonzeption der VZ davon aus, dass Mitgliedstaaten, die sich in einem Bereich grundsätzlich einig sind, gemeinsam einen weiteren Integrationsschritt gehen. Der Bedarf für eine Regelung über das Ausscheiden aus einer VZ drängt sich insofern nicht auf, so dass es durchaus denkbar ist, dass die Regelung nicht bewusst unterblieben ist. Auch aus der Aufnahme des Art. 50 EUV, der den einseitigen Austritt aus der EU insgesamt ermöglicht , lassen sich Argumente in beide Richtungen ableiten. Einerseits lässt sich argumentieren , dass, wenn schon der Austritt aus der EU rechtlich zulässig ist, erst recht der Austritt aus der Verstärkten Zusammenarbeit zulässig sein muss: Die VZ ist eine Form der differenzierten Integration – welche eine Ausnahme in der Unionspolitik bildet – , die aus der Überlegung heraus , dass „zeitweilige Schwierigkeiten eines Partners, Schritt zu halten, die Handlungsfähigkeit der Union, ihre Möglichkeiten, Fortschritte zu erzielen, nicht beeinträchtigen dürfen “25 in die Verträge aufgenommen wurde. Sie bleibt insofern hinter der Vollintegration zurück. Entsprechend legt die Möglichkeit eines Austritts aus der „vollintegrierten“ EU nahe, dass erst recht die Möglichkeit des Austritts aus der anderen differenzierten Integrationsform bestehen muss. Andererseits kann auch – wie oben – argumentiert werden, dass aus der Tatsache, dass für den Austritt aus der EU eine Regelung aufgenommen wurde, für den Austritt aus einer VZ aber nicht, im Umkehrschluss folge, dass letzterer eben nicht zulässig sein sollte. Für die Zulässigkeit des Austritts spricht, dass die Teilnahme an der Verstärkten Zusammenarbeit freiwillig ist. So heißt es in Art. 20 Abs. 1 EUV, dass die Mitgliedstaaten die eine VZ begründen „wollen“ die Organe der Union in Anspruch nehmen „können“. Art. 327 und 328 AEUV nehmen ausdrücklich nichtbeteiligte Mitgliedstaaten in den Blick. Die VZ ist also gerade so konzipiert , dass nicht alle Mitgliedstaaten an ihr beteiligt sein müssen. Wenn aber ein Mitgliedstaat zunächst davon ausging, mit dem Integrationstempo Schritt halten zu können, dann aber im Laufe der Durchführung und Umsetzung merkt, dass dies doch nicht der Fall ist, spricht viel für die Annahme, ihm entsprechend der Idee der differenzierten Integration die Möglichkeit des Rückzugs einzuräumen, ohne dadurch die Bestrebungen der anderen Mitgliedstaaten, zu einer Einigung zu gelangen, zu behindern. Denn einem Mitgliedstaat das Ausscheiden zu verwehren, würde angesichts der im Zusammenhang mit der Einführung einer Finanztransaktionssteuer geforderten Einstimmigkeit des Ratsbeschlusses (vgl. Art. 113 AEUV) über den „Umsetzungsakt“, zu einer Blockade führen, welche durch das Instrument der VZ gerade verhindert werden sollte. Nach Sinn und Zweck der Vorschriften über die Verstärkte Zusammenarbeit soll ein Mitgliedstaat nicht zur (weiteren) Teilnahme an einer VZ gegen seinen Willen gezwungen werden, sondern sich freiwillig dazu bereit erklären. 24 Vgl. dazu die Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 144/12 – Fragen zu einem etwaigen Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone - Rechtliche Rahmenbedingungen für ein Ausscheiden aus der Eurozone und/oder aus der EU vom 14.09.2012 von A. Eriksson. 25 Briefwechsel zwischen H. Kohl und J. Chirac vom 06.12.1995, zitiert nach Blanke, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 48. Ergänzungslieferung 2012, Art. 20 EUV, Rn. 3. PE 6 – 3000 – 15/13 Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 13 Fachbereich Europa PE 6 – 3000 – 15/13 Gegen die Zulässigkeit eines einseitigen Ausscheidens aus einer VZ spricht hingegen, dass der Rat die 11 konkret benannten Mitgliedstaaten und nicht 11 minus X zur Durchführung einer VZ ermächtigt hat.26 Insofern lässt sich argumentieren, dass es jedenfalls eines neuen Ermächtigungsbeschlusses im Hinblick auf die (noch) teilnehmenden Mitgliedstaaten bedarf, um die VZ auf wirksame Grundlage zu stellen. Insofern müsste der Rat den ursprünglichen Ermächtigungsbeschluss mit qualifizierter Mehrheit durch einen actus contrarius aufheben und eine neue Ermächtigung nach Art. 329 Abs. 1 AEUV im Hinblick auf die nunmehr noch teilnahmewilligen Mitgliedstaaten beschließen. Zu beachten ist dabei, dass die Mindestzahl der teilnehmenden Mitgliedstaaten nicht unterschritten wird (vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 1 EUV). Zusammenfassend lassen sich Argumente sowohl für als auch gegen die Zulässigkeit eines einseitigen Ausscheidens aus einer VZ finden. Zweifellos darf es aber nicht in das Belieben eines einzelnen Mitgliedstaates gestellt werden. Insbesondere darf ein Ausscheiden nicht dazu missbraucht werden, die Pflicht zur Anwendung und Durchführung der im Rahmen der VZ angenommenen Rechtsakte und Beschlüsse zu unterlaufen.27 Entsprechend wird ein Ausscheiden nach Erlass von Durchführungsrechtsakten kaum noch möglich sein. Es spricht aber vieles dafür, das Ausscheiden jedenfalls vor Erlass von Durchführungsrechtsakten im oben beschriebenen Weg der Aufhebung und Neufassung des Ratsbeschlusses über die Ermächtigung zur Verstärkten Zusammenarbeit bewirken zu können. 3.2. Ausschluss aus der VZ? Denkbar erscheint auch, dass eine Gruppe von Mitgliedstaaten den Ausschluss eines „blockierenden „Mitgliedstaates“ aus der VZ wünscht. Ein solcher Ausschluss gegen den Willen des betreffenden Mitgliedstaates dürfte aber angesichts des Fehlens einer entsprechenden Regelung rechtlich unzulässig sein. EUV und AEUV räumen den Mitgliedstaaten das Recht zur Teilnahme an einer VZ ein. Um ihnen dieses Recht wieder zu nehmen – und nichts anderes wäre der Ausschluss gegen den Willen eines Mitgliedstaates – bedarf es einer ausdrücklichen Regelung. Da eine solche fehlt, könnte allenfalls noch an einen Rückgriff auf das allgemeine Völkerrecht gedacht werden. Möglicherweise könnte der Ausschluss auf Art. 60 Abs. 2 WVK28 gestützt werden. 26 Vgl. S. 7. 27 Thun-Hohenstein, Der Vertrag von Amsterdam, Die neue Verfassung der EU, Wien 1997, S. 126. 28 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23.05.1969, BGBl. 1985 II, S. 926. Art. 60 WVK lautet: (1) Eine erhebliche Verletzung eines zweiseitigen Vertrags durch eine Vertragspartei berechtigt die andere Vertragspartei , die Vertragsverletzung als Grund für die Beendigung des Vertrags oder für seine gänzliche oder teilweise Suspendierung geltend zu machen. (2) Eine erhebliche Verletzung eines mehrseitigen Vertrags durch eine Vertragspartei a) berechtigt die anderen Vertragsparteien, einvernehmlich den Vertrag ganz oder teilweise zu suspendieren oder ihn zu beenden i) entweder im Verhältnis zwischen ihnen und dem vertragsbrüchigen Staat ii) oder zwischen allen Vertragsparteien; b) berechtigt eine durch die Vertragsverletzung besonders betroffene Vertragspartei, die Verletzung als Grund für die gänzliche oder teilweise Suspendierung des Vertrags im Verhältnis zwischen ihr und dem vertragsbrüchigen Staat geltend zu machen; c) berechtigt jede Vertragspartei außer dem vertragsbrüchigen Staat, die Vertragsverletzung als Grund für die gänzliche oder teilweise Suspendierung des Vertrags in Bezug auf sich selbst geltend zu machen, wenn der Vertrag so beschaffen ist, dass eine erhebliche Verletzung seiner Bestimmungen durch eine Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 14 Fachbereich Europa PE 6 – 3000 – 15/13 Diese Vorschrift ermächtigt die Vertragsparteien eines mehrseitigen völkerrechtlichen Vertrages zu dessen (teilweiser) Suspendierung oder Beendigung, wegen einer erheblichen Vertragsverletzung durch eine Vertragspartei.29 Selbst wenn man diese Vorschrift für anwendbar hielte30, ist doch nicht ersichtlich, worin die Vertragsverletzung eines an einer VZ teilnehmenden Mitgliedstaates bestehen soll, der sich nicht in der Lage sieht, dem vorgeschlagenen Durchführungsrechtsakt zuzustimmen. Die Teilnahme an einer Verstärkten Zusammenarbeit verpflichtet die Mitgliedstaaten nämlich nicht dazu, den Durchführungsbeschlüssen und -rechtsakten zuzustimmen . Diese Gesichtspunkte sprechend dafür, dass ein Ausschluss aus einer Verstärkten Zusammenarbeit im Ergebnis nicht zulässig ist. 3.3. Faktisches Ausscheiden aus der VZ Selbst wenn man weder Austritt noch Ausschluss aus einer VZ für rechtlich zulässig hielte, ist die Verstärkte Zusammenarbeit jedoch faktisch als beendet anzusehen, wenn die beteiligten Mitgliedstaaten sich im Rahmen der Zusammenarbeit nicht auf einen durchführenden bzw. umsetzenden Rechtsakt einigen können und das Scheitern der Verhandlungen erklären. Entsprechend könnte auch ohne das formal juristische Ausscheiden aus der VZ bzw. die Aufhebung und Neufassung des Ermächtigungsbeschlusses die VZ als beendet anzusehen sein, wenn den beteiligten Mitgliedstaaten eine Einigung nicht gelänge. Wenn ein Mitgliedstaat sich an den Verhandlungen zur Durchführung der VZ im Bereich der Finanztransaktionssteuer nicht mehr beteiligen möchte, führt das im Ergebnis dazu, dass wegen der von Art. 113 AEUV geforderten Einstimmigkeit im Rat Durchführungsrechtsakte nicht erlassen werden können. Der EUV und der AEUV enthalten keine Mechanismen, einen Mitgliedstaat zu Verhandlungen zu zwingen. Vertragspartei die Lage jeder Vertragspartei hinsichtlich der weiteren Erfüllung ihrer Vertragsverpflichtungen grundlegend ändert. (3) Eine erhebliche Verletzung im Sinne dieses Artikels liegt a) in einer nach diesem Übereinkommen nicht zulässigen Ablehnung des Vertrags oder b) in der Verletzung einer für die Erreichung des Vertragsziels oder des Vertragszwecks wesentlichen Bestimmung . (4) Die Absätze 1 bis 3 lassen die Vertragsbestimmungen unberührt, die bei einer Verletzung des Vertrags anwendbar sind. (5) Die Absätze 1 bis 3 finden keine Anwendung auf Bestimmungen über den Schutz der menschlichen Person in Verträgen humanitärer Art, insbesondere auf Bestimmungen zum Verbot von Repressalien jeder Art gegen die durch derartige Verträge geschützten Personen. 29 Zur Suspendierung von Mitgliedschaftsrechten vgl. Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 8. Auflage 2012, Rn. 109ff.; Hanschel, Der Rechtsrahmen für den Beitritt, Austritt und Ausschluss zu bzw. der Europäischen Union und Währungsunion – Hochzeit und Scheidung à la Lissabon, in: NVwZ 2012, 995 (1000). 30 Zur Anwendbarkeit des allgemeinen Völkerrechts neben dem Unionsrecht vgl. z. B. Schwarze, Das allgemeine Völkerrecht in den innergemeinschaftlichen Rechtsbeziehungen, Europarecht (EuR) 1983, S. 1 ff.; Athanassiou, Withdrawal and Expulsion from the EU and EMU – Some Reflections, in: EZB (Hrsg.), Legal Working Paper Series, No 10, December 2009, S. 12 ff., online abrufbar unter http://www.ecb.int/pub/pdf/scplps/ecblwp10.pdf (zuletzt abgerufen am 18.02.2013). 3. Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 15 Fachbereich Europa PE 6 – 3000 – 15/13 4. Neuer Beschluss über eine Verstärkte Zusammenarbeit in anderer Zusammensetzung? Soweit die Verhandlungen im Rahmen der VZ scheitern, kann in Betracht gezogen werden, dass jene Mitgliedstaaten, die sich im Bezug auf die konkreten Durchführungsrechtsakte einig sind, einen weiteren Beschluss über eine Verstärkte Zusammenarbeit fassen und das Vorhaben in „neuer Zusammensetzung“ weiter verfolgen. Eine bereits beschlossene Verstärkte Zusammenarbeit hindert die Mitgliedstaaten der EU nicht daran, in anderen Konstellationen weitere Verstärkte Zusammenarbeiten zu begründen, soweit die Voraussetzungen einer VZ aus Art. 20 EUV i.V.m. Art. 326 ff. AEUV trotz der Nichtbeteiligung eines/mehrerer Mitgliedstaaten vorliegen.31 Insbesondere käme es darauf an, dass mindestens 9 Mitgliedstaaten einen Antrag auf Ermächtigung zur VZ an die Kommission stellen (Art. 20 Abs. 3 S. 1 EUV). 5. Möglichkeit eines nationalen Alleingangs? Weiterhin erscheint denkbar, dass einzelne Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene eine Finanztransaktionssteuer einführen wollen, wenn die Verhandlungen im Rahmen der VZ scheitern .32 Fraglich ist, ob solche nationalen Alleingänge mit dem EU-Recht vereinbar wären, insbesondere ob materielle Regeln des Unionsrechts entgegenstehen (5.1 und 5.2.) und ob es hierfür zuvor der Beendigung der VZ bedarf (5.3.). Nur am Rande sei angemerkt, dass die Überlegungen zur Vereinbarkeit einer Finanztransaktionssteuer mit dem materiellen Unionsrecht auch für deren Einführung im Rahmen der VZ einschlägig sind. 5.1. Vereinbarkeit mit europäischem Sekundärrecht Sofern Sekundärrecht für einen bestimmten Sachbereich einschlägig ist, sind nationale Maßnahmen primär an den sekundären Rechtsakten zu messen.33 Es wird daher im Folgenden untersucht , ob sich aus vorrangigem Sekundärrecht ein Verbot der Einführung einer Finanztransaktionssteuer im nationalen Alleingang ergibt. In diesem Kontext einschlägig ist die Richtlinie 2008/7/EG betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital.34 Nach Erwägungsgrund 3 zielt die Richtlinie darauf, die Rechts- 31 Welche Voraussetzungen im Einzelnen erfüllt sein müssen, ist nicht Gegenstand dieser Ausarbeitung. Vgl. dazu aber den Vorschlag für einen Beschluss des Rates über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Finanztransaktionssteuer, Com (2012) 631 final, S. 4ff. 32 Vgl. etwa die Bestrebungen Frankreichs aus dem Jahre 2012, eine Finanztransaktionssteuer notfalls im Alleingang einzuführen (vgl. Focus Online vom 6.1.2012, „Frankreich will Finanztransaktionssteuer einführen“, online abrufbar unter: http://www.focus.de/finanzen/news/staatsverschuldung/sarkozy-plant-alleingang-frankreichwill -finanztransaktionssteuer-einfuehrenaid700087.html (zuletzt abgerufen am 19.02.2013). 33 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 1, 2012, Rn. 382; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 8. Auflage 2012, Rn. 789. 34 Richtlinie 2008/7/EG des Rates vom 12. Februar 2008 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital, Abl. Nr. L 046, S. 11 ff., online abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2008:046:0011:0022:DE:PDF, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 16 Fachbereich Europa PE 6 – 3000 – 15/13 vorschriften über indirekte Steuern auf die Ansammlung von Kapital zu harmonisieren, um so weit wie möglich die Verfälschung von Wettbewerbsbedingungen und die Behinderung des freien Kapitalverkehrs auszuschließen. 5.1.1. Grundsätzliches Verbot der Erhebung indirekter Steuern (Art. 5 Richtlinie 2008/7/EG) Nach Art. 5 Abs. 1 lit. e) und Art. 5 Abs. 2 Richtlinie 2008/7/EG dürften auf die darin aufgeführten Transaktionen grundsätzlich keine Steuern erhoben werden. Insbesondere verbietet Art. 5 Abs. 2 lit. a) Richtlinie 2008/7/EG den Mitgliedstaaten grundsätzlich die Erhebung indirekter Steuern „irgendwelcher Art auf die Ausfertigung, die Ausgabe, die Börsenzulassung, das Inverkehrbringen von oder den Handel mit Aktien, Anteilen oder anderen Wertpapieren gleicher Art sowie Zertifikaten derartiger Wertpapiere, ungeachtet der Person des Emittenten“. Darüber hinaus dürfen gemäß Art. 5 Abs. 2 lit. b) Richtlinie 2008/7/EG keine indirekten Steuern auf bestimmte Anleihen einschließlich Renten erhoben werden. Dies könnte auf den ersten Blick so verstanden werden, dass sowohl die Erhebung einer Börsenumsatzsteuer als auch die Erhebung einer umfassenderen Finanztransaktionssteuer durch einen Mitgliedstaat, nicht mit sekundärem Unionsrecht vereinbar ist. 5.1.2. Ausnahmen vom generellen Verbot (Art. 6 Richtlinie 2008/7/EG) Art. 6 Abs. 1 lit. a) Richtlinie 2008/7/EG gestattet den Mitgliedstaaten jedoch als Ausnahme vom generellen Verbot der Erhebung indirekter Steuern aus Art. 5 „pauschal oder nicht pauschal erhobene Steuern auf die Übertragung von Wertpapieren“ zu erheben. Fraglich ist, ob eine Finanztransaktionssteuer unter diese Ausnahmeregelung subsumiert werden kann. Hierzu werden verschiedene Ansichten vertreten35: Der Rechtsanwalt Stefan Maunz hat in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 18. Mai 2010 die Auffassung vertreten, dass Art. 6 Richtlinie 2008/7/EG nur die Besteuerung einer etwaigen Übertragung von Wertpapieren erlaube, jedoch nicht das Anknüpfen an den Kapitalwert einer Transaktion.36 Für diese enge Auslegung des Ausnahmetatbestands beruft er sich auf den insoweit noch weiteren Wortlaut der Vorgängerrichtlinie 69/335/EWG37, die in Art. 12 Abs. 1 lit. a) noch explizit die Einführung einer Börsenumsatzsteuer gestattete. Im Umkehrschluss sollen also eine Börsenumsatzsteuer und damit auch eine umfassendere Besteuerung des Kapitalwerts der Transaktion (Finanztransaktionssteuer) sekundärrechtlich ausgeschlossen sein. 35 Die folgenden Ausführungen gehen zum Teil zurück auf die Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 5/12 – Einführung einer Finanztransaktionssteuer allein in einem Mitgliedstaat bzw. im Euro-Währungsgebiet mittels verstärkter Zusammenarbeit – Vereinbarkeit mit sekundärem Unionsrecht und der Kapitalverkehrsfreiheit vom 8.2.2012 von K. Rohleder. 36 Maunz, Das Risiko der Unvereinbarkeit, in Süddeutschen Zeitung vom 21.5.2010, online abrufbar unter: http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/finanztransaktionssteuer-europaweit-oder-gar-nicht-1.946597-2 zuletzt abgerufen am 13.02.2013. 37 Richtlinie des Rates vom 17. Juli 1969 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital (69/335/EWG), ABl. L 249, S. 25 ff., online abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CONSLEG:1969L0335:19850617:DE:PDF zuletzt abgerufen am 13.02.2013, Art. 12 Abs. 1 lit. a) der Richtlinie lautete: „In Abweichung von den Artikeln 10 und 11 können die Mitgliedstaaten folgendes erheben: a) pauschal oder nicht pauschal erhobene Börsenumsatzsteuern“. 3. Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 17 Fachbereich Europa PE 6 – 3000 – 15/13 Gegen diese Argumentation wird von Franz Mayer (Professor an der Universität Bielefeld) und seinem Mitarbeiter Christian Heidfeld in einem Aufsatz aus dem Jahr 2010 eingewandt, dass mit der Neufassung der Richtlinie keine Einschränkung des Ausnahmetatbestands im Hinblick auf die Einführung von Finanztransaktionssteuern intendiert worden sei.38 Die Autoren berufen sich hierfür auf einen Vergleich des Wortlauts der alten Richtlinie 69/335/EWG mit der neuen Richtlinie 2008/7/EG in anderen, genauso verbindlichen Sprachfassungen wie der deutschen. In der englischen Fassung normiert sowohl Art. 6 Abs. 1 lit. a) Richtlinie 2008/7/EG als auch Art. 12 Abs. 1 lit. a) Richtlinie 69/335/EWG wortlautgleich als Ausnahmetatbestand vom Verbot der indirekten Besteuerung „duties on the transfer of securities, whether charged at a flat rate or not“.39 Das gleiche gilt für die französische Sprachfassung, nach der in beiden Richtlinienfassungen eine Ausnahme des Verbots der indirekten Besteuerung für „taxes sur la transmission des valeurs mobiières, percures forfaitairement ou non “ enthalten ist.40 Vergleicht man die beiden Richtlinien in anderen Sprachfassungen, so haben die Ausnahmetatbestände des Art. 6 Abs. 1 lit. a) Richtlinie 2008/7/EG und Art. 12 Abs. 1 lit. a) Richtlinie 69/335/EWG also einen identischen Wortlaut. Da alle Sprachfassungen des Unionsrechts gleich verbindlich sind, darf für die Auslegung des Inhalts einer Norm auch auf andere Sprachfassungen Rückgriff genommen werden.41 Folglich kann nach Mayer und Heidfeld dem Begriff „Übertragung von Wertpapieren“ in der neuen Richtlinie 2008/7/EG keine andere Bedeutung zukommen als dem Begriff „Börsenumsatzsteuer “ in der alten Richtlinie 69/335/EWG.42 Für diese weite Auslegung des Ausnahmetatbestands durch Mayer und Heidfeld spricht zusätzlich , dass die Begründung des Entwurfs der heutigen Richtlinie 2008/7/EG zu den Ausnahmetatbeständen in Art. 6 ausdrücklich feststellt, dass Art. 6 dem früheren Art. 12 Richtlinie 69/335/EWG entspreche, und dass dieser „abgesehen von einigen redaktionellen Änderungen unverändert“ bliebe.43 Nach der Intention des Unionsgesetzgebers sollte also der Ausnahmetatbestand des Art. 6 Abs. 1 lit. a) Richtlinie 2008/7/EG nicht bewusst enger gefasst werden. Somit 38 Mayer/Heidfeld, Europarechtliche Aspekte einer Finanztransaktionssteuer, EuZW 2011, S. 373 (377). 39 Council Directive 2008/7/EC of 12 February 2008 concerning indirect taxes on the raising of capital, OJ L 46 p. 11, online abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:32008L0007:EN:HTML (letzter Abruf 7.2.2012); Council Directive of 17 July 1969 concerning indirect taxes on the raising of capital (69/335/EEC), OJ L 249, p. 25, online abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CONSLEG:1969L0335:19850617:EN:PDF zuletzt abgerufen am 13.02.2013. 40 Directive 2008/7/CE du Conseil du 12 février 2008 concernant les impôts indirects frappant les rassemblements de capitaux, JO L 046, p. 11, online abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:32008L0007:FR:HTML zuletzt abgerufen am 13.02.2013; Directive du Conseil du 17 juillet 1969 concernant les impôts indirects frappant les rassemblements de capitaux (69/335/CEE), JO L 249, p. 25, online abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CONSLEG:1969L0335:19850617:FR:PDF zuletzt abgerufen am 13.02.2013. 41 Ständige Rechtsprechung des EuGH, vgl. z.B. Rs. 29/69, Slg. 1969, 419. 42 Mayer/Heidfeld, Europarechtliche Aspekte einer Finanztransaktionssteuer, EuZW 2011, S. 373 (377 f.). 43 Vorschlag der Europäischen Kommission vom 4. Dezember 2006 für eine Richtlinie des Rates betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital (Neufassung), Ratsdok. 17065/06, S. 7. PE 6 – 3000 – 15/13 Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 18 Fachbereich Europa PE 6 – 3000 – 15/13 spricht viel dafür, dass auch die neue Richtlinie 2008/7/EG die Erhebung einer Börsenumsatzsteuer durch die Mitgliedstaaten weiterhin gestattet. Im Ergebnis gehen Mayer und Heidfeld davon aus, dass eine Finanztransaktionssteuer nicht gegen die Richtlinie 2008/7/EG verstoßen würde. Dabei nehmen sie an, dass die Börsenumsatzsteuer aufgrund des Ausnahmetatbestands des Art. 6 Abs. 1 lit. a) Richtlinie 2008/7/EG gestattet sei und die Besteuerung von Devisen nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie falle.44 Auch die Kommission geht davon aus, dass die Erhebung einer Finanztransaktionssteuer nicht generell ausgeschlossen ist, sondern es darauf ankommt, welche Geschäfte genau besteuert werden sollen.45 Da anders als noch mit dem 2011er Richtlinienvorschlag im Wege der VZ eine Änderung der Richtlinie 2008/7/EG nicht vorgenommen werden kann, ist entscheidend, dass auch der aktuelle Kommissionsvorschlag nicht gegen diese Richtlinie verstößt. Mit ihrem im Rahmen der VZ unterbreiteten Richtlinienvorschlag will die Kommission ausdrücklich Verstöße gegen die Richtlinie 2008/7/EG, die weiterhin vollständig anwendbar ist, vermeiden. Deshalb sollen bestimmte Transaktionen, insbesondere Finanztransaktionen im Rahmen von Umstrukturierungen oder der Ausgabe von Wertpapieren nicht der Finanztransaktionssteuer unterliegen.46 Auch eine im nationalen Alleingang eingeführte Finanztransaktionssteuer müsste so gestaltet sein, dass sie nicht gegen die Richtlinie 2008/7/EG verstößt bzw. dass sie den Ausnahmetatbestand des Art. 6 Abs. 1 it. a) der Richtlinie erfüllt. Ziel der Richtlinie 2008/7/EG ist es, die Kapitalzuführung zu Kapitalgesellschaften ausschließlich der vereinheitlichten Gesellschaftssteuer zu unterwerfen.47 Die Primärmarktbesteuerung, also eine Besteuerung der Erstemissionen, unterliegt deswegen nach der Richtlinie einem Verbot .48 Mit den Verbotsgründen in Art. 5 Abs. 2 Richtlinie 2008/7/EG sollen darüber hinaus auch die Erhebung anderer indirekter Steuern mit den gleichen Merkmalen wie eine Gesellschaftssteuer oder eine Wertpapiersteuer untersagt werden.49 Unabhängig von der Ausnahme des Art. 6 Abs. 1 lit. a) Richtlinie 2008/7/EG sind nach Art. 5 Abs. 2 Richtlinie 2008/7/EG deswegen die Besteuerung der Ausgabe von Anteilen oder anderen Wertpapieren gleicher Art sowie Zertifikaten derartiger Wertpapiere, Obligationen – einschließlich Renten – oder anderen handelsfähi- 44 Mayer/Heidfeld, Europarechtliche Aspekte einer Finanztransaktionssteuer, EuZW 2011, S. 373 (378). 45 Vgl. Europäische Kommission, Commission Staff Working Document – Innovative financing at a global level, SEC(2010) 409 final, S. 27, online abrufbar unter: http://ec.europa.eu/economyfinance/articles/international/documents/innovativefinancinggloballevelsec2 010409en.pdf zuletzt abgerufen am 13.02.2013. 46 COM (2013) 71 final, a.a.O., S. 10. 47 S. Erwägungsgründe 1 bis 3 der Richtlinie 2008/7/EG; s. auch die Erwägungsgründe der Richtlinie 69/335/EWG; hierzu Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der EU, Bd. 1, Loseblatt, Stand: September 2010, Art. 63 AEUV, Rn. 331. 48 Vogel, Der EU-Richtlinienvorschlag zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer, IStR 2012, S. 12 (14). 49 Letzter Erwägungsgrund der Richtlinie 69/335/EWG; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der EU, Bd. 1, Loseblatt, Stand: September 2010, Art. 63 AEUV, Rn. 331. PE 6 – 3000 – 15/13 Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 19 Fachbereich Europa PE 6 – 3000 – 15/13 gen Wertpapieren, die Anleihen betreffen, verboten.50 Mit einer Finanztransaktionssteuer können also keine Steuern – in welcher Variante auch immer – auf Kapitalerhöhungen erhoben werden. 5.1.3. Ergebnis Im Ergebnis ist es durchaus möglich, im nationalen Alleingang eine Finanztransaktionssteuer einzuführen, soweit die nationalen Regelungen nicht gegen die Richtlinie 2008/7/EG verstoßen. 5.2. Vereinbarkeit mit der primärrechtlichen Kapitalverkehrsfreiheit Weiterhin muss die Einführung einer Finanztransaktionssteuer im nationalen Alleingang – wie auch im Rahmen der VZ – mit der in Art. 63 Abs. 1 AEUV normierten Kapitalverkehrsfreiheit vereinbar sein. 5.2.1. Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit Art. 63 Abs. 1 AEUV verbietet alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Staaten. Unter dem Begriff „Kapital“ werden allgemein alle Vermögenswerte verstanden.51 So beschreibt der EuGH den Kapitalverkehr als „Transfer von Vermögenswerten“52 und greift in ständiger Rechtsprechung zur näheren Konkretisierung des Begriffs auf die Kapitalverkehrsrichtlinie 88/36153 zurück. Nach deren enumerativer , aber nicht abschließender Aufzählung54 fallen unter den Begriff Geldkapital, z. B. gesetzliche Zahlungsmittel, Wertpapiere, Kredite und Darlehen, sowie Sachkapital, wie z. B. Immobilien und Unternehmensbeteiligungen.55 Erfasst ist also jede Transaktion zum Zwecke der Anlage oder Investition bzw. der Finanzierung (aus Sicht des Kapitalnachfragers).56 Die Besteuerung des Transfers von Wertpapieren unterfällt damit dem Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit , so dass die Erhebung einer Börsenumsatz- bzw. Finanztransaktionssteuer an der Kapitalverkehrsfreiheit gemessen werden muss. 50 So auch die Begründung des EU-Richtlinien-Vorschlags zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer, a.a.O., S. 12. 51 Von Wilmowsky, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundfreiheiten und Grundrechte, 2009, § 12 IV 1 Rn. 2. 52 EuGH, verb. Rs. C-358/93 und 416/93, Slg. 1995, I-316, Rn. 13. 53 Richtlinie 88/361 des Rates vom 24 Juni 1988 zur Durchführung von Artikel 67 des Vertrages, Abl. L 178, S. 5 ff., online abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:1988:178:0005:0018:DE:PDF zuletzt abgerufen am 13.02.2013. 54 EuGH, Rs. C-222/97, Slg. 1999, I-1661, Rn. 21; EuGH Rs. C-468/98, Slg. 2001, I-173, Rn. 5. 55 Schürmann, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge, Kommentar, 2010, Art. 63 AEUV, Rn. 3; Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, 2005, S. 99; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 8. Auflage, 2012, Rn. 1006; Glaesner, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2009, Art. 56 EGV, Rn. 4. 56 Sedlaczek/Züger, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Auflage 2012, Art. 63 AEUV, Rn. 20. Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 20 Fachbereich Europa PE 6 – 3000 – 15/13 5.2.2. Grenzüberschreitender Sachverhalt Die Grundfreiheiten gelangen nur zur Anwendung, wenn ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt. Ein grenzüberschreitender Bezug ist hergestellt, wenn sich die in dem Mitgliedstaat angestrebten Regelungen in mehr als nur einem Mitgliedstaat auswirken. Abhängig von der konkreten nationalen Regelung ist ein grenzüberschreitender Sachverhalt jedenfalls dann vorstellbar, wenn für die Erhebung der Steuer – wie im nunmehr von der Kommission vorgelegten Kommissions -Vorschlag – auf das Ansässigkeits- und/oder das Ausgabeprinzip zurückgegriffen würde und die Parteien einer Transaktion in verschiedenen Mitgliedstaaten ansässig wären, oder das gehandelte Finanzinstrument in einem anderen Mitgliedstaat ausgegeben wurde als die Parteien der Transaktion ansässig sind. 5.2.3. Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit Art. 63 Abs. 1 AEUV verbietet alle Beschränkungen des grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten und gegenüber dritten Ländern. Der Begriff der Beschränkung in Art. 63 Abs. 1 AEUV umfasst sowohl diskriminierende nationale Regelungen als auch solche Maßnahmen, die unterschiedslos für grenzüberschreitende und innerstaatliche Transaktionen gelten.57 Unter Beschränkung wird jede nationale Maßnahme verstanden, die geeignet ist, von der Wahrnehmung der Freiheit abzuschrecken oder grenzüberschreitenden Kapitalverkehr weniger attraktiv zu machen.58 Es sind somit alle nationalen Regelungen unzulässig, die In- und Auslandssachverhalte prima facie zwar gleich behandeln, aber grenzüberschreitende Betätigungen faktisch gegenüber den innerstaatlichen erschweren.59 Eine Besteuerung von Finanztransaktionen führt jedenfalls dazu, dass sich deren Kosten erhöhen. Es ist durchaus vorstellbar, dass sich allein durch die Erhöhung der Kosten die Bereitschaft verringert, der Besteuerung unterliegende grenzüberschreitende Finanztransaktionen durchzuführen.60 Eine Beschränkung des Kapitalverkehrs durch eine nationale Finanztransaktionssteuer ist damit jedenfalls vorstellbar. 5.2.4. Rechtfertigung Eine solche Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit führt aber nicht per se zur Unzulässigkeit sondern kann gerechtfertigt sein. 57 Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 2009, § 31, Rn. 20. 58 Ständige Rechtsprechung des EuGH, vgl. z. B. Rs. C-439/97, Slg. 1999, I-7041, Rn. 19; Rs. C-484/93; Slg. 1995, I- 3955, Rn. 10; Rs. C-222/97, Slg. 1999, I-1661, Rn. 26 f.; Rs. C-478/98, Slg. 2000, I-7587, Rn. 18 f.; Rs. C-483/99, Slg. 2002, I-4781, Rn. 41; Rs. C-463/00, Slg; 2003, I-4581, Rn. 61. 59 Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, 2009, Rn. 835. 60 Vgl. zum Begriff der Beschränkung des Kapitalverkehrs insbesondere EuGH, Rs. C-439/97 (Sandoz), Slg. 1999, I- 7041, wo der EUGH darin eine Beschränkung gesehen hat, dass ein Mitgliedstaat für alle in einem Mitgliedstaat ansässigen natürlichen und juristischen Personen, ungeachtet der Staatsangehörigkeit der Vertragspartner und des Ortes des Abschlusses des Darlehensvertrages, eine Steuer für den Abschluss von Darlehensverträgen erhebt . PE 6 – 3000 – 15/13 Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 21 Fachbereich Europa PE 6 – 3000 – 15/13 5.2.4.1. Rechtfertigungsgrund Man könnte in diesem Zusammenhang an den geschriebenen Rechtfertigungsgrund des Art. 65 Abs. 1 lit. a AEUV denken. Hiernach ist es den Mitgliedstaaten gestattet, die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln. Allerdings ist der Anwendungsbereich dieser Norm durch eine zum Vertrag von Maastricht aufgenommene Erklärung Nr. 7 zu Art. 73d des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) (später Art. 58 EGV, jetzt Art. 65 AEUV) erheblich eingeschränkt worden: Hiernach gilt das in Art. 65 Abs. 1 lit. a AEUV erwähnte Recht der Mitgliedstaaten, „die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, nur für die einschlägigen Vorschriften (...), die Ende 1993 bestehen“ (sog. Stillhalteerklärung ).61 Seit der Beitrittsakte 2003 ist diese Stillhalteklausel auch im Primärrecht verankert .62 Neue Regelungen im Kapital- und Zahlungsverkehr der Mitgliedstaaten, die nach Wohnort oder Anlageort differenzieren, können damit nicht auf Art. 65 Abs. 1 lit. a AEUV gestützt und gerechtfertigt werden.63 Richterrechtlich hat der EuGH seit seiner Cassis de Dijon-Entscheidung64 ungeschriebene Rechtfertigungsgründe entwickelt, die „zwingenden Erfordernisse des Allgemeinwohls/-interesses“.65Es handelt sich hierbei um einen nicht abgeschlossenen Kanon.66 Eine Rechtfertigung aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses kommt grundsätzlich nur bei unterschiedslos anwendbaren Maßnahmen in Betracht, „die für alle im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats tätigen Personen oder Unternehmen gelten“67. Der Einführung einer Finanztransaktionssteuer werden im Allgemeinen folgende Ziele zugeschrieben , die sich auch im Richtlinienvorschlag der Kommission für ein Finanztransaktionssteuersystem wiederfinden68: Nach der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise wird erstens häufig das Argument vorgebracht, dass der Finanzsektor an der Finanzierung der Folgen der 61 ABl. 1992 Nr. C 191/99. 62 Anhang IV der Akte über die Bedingungen des Beitritts von Tschechien, Estland, Zypern, Lettland, Litauen, Ungarn, Malta, Polen, Slowenien und der Slowakei, ABl. 2003 L 236/33 (797). 63 Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 8. Auflage, 2012, Rn. 1017; Glasner, in: Schwarze (Hrsg.), EU- Kommentar, 2009, Art. 58 EGV, Rn. 2. 64 EuGH, Rs. 120/78, Slg. 1979, S. 649, Rn. 8. 65 Zur Herleitung solcher zwingenden Erfordernisse des Allgemeininteresses durch den EuGH vgl. von Wilmowsky, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2009, § 12 IV 1, Rn. 12; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 8. Auflage, 2012, Rn. 857 ff. 66 Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, 2009, Rn. 835. 67 EuGH, Rs. C-302/97, Slg. 1999, I-3099, Rn. 40 f.; Rs. C-503/99, Slg. 2002, I-4809, Rn. 45. 68 Vgl. Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 14.02.2013, IP/13/115, S. 1 a.E. (online abrufbar unter http://europa.eu/rapid/press-releaseIP-13-115de.htm, zuletzt abgerufen am 15.02.2013). Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 22 Fachbereich Europa PE 6 – 3000 – 15/13 91 Pache, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 2010, § 10 Rn. 57. Finanz- und Wirtschaftskrise beteiligt werden solle.69 Als zweites Ziel einer Finanztransaktionssteuer wird dieser ein positiver Effekt auf die Stabilisierung des Finanzmarktes und die Verhinderung zukünftiger Finanzkrisen zugeschrieben.70 Drittens soll sie der Verringerung des spekulativen Handels durch höhere Transaktionskosten dienen.71 Schließlich dient eine Finanztransaktionssteuer zumindest als Nebenziel72 dazu, die Steuereinnahmen des sie erhebenden Staates zu erhöhen.73 Die Stabilisierung der Finanzmärkte durch Verringerung von spekulativem Handel kann nach hiesiger Einschätzung als ein solches zwingendes Erfordernis angesehen werden.74 Höhere Steuereinnahmen werden aufgrund der Steuerhoheit der Mitgliedstaaten grundsätzlich ebenfalls als zwingende Gründe des Allgemeinwohlinteresses anerkannt.75 5.2.4.2. Rechtfertigungsschranken: Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Beschränkungen des Kapitalverkehrs sind jedoch auch bei Vorliegen von zwingenden Erfordernissen des Allgemeininteresses nur dann zulässig, soweit sie geeignet und erforderlich sind, diesem Ziel zu dienen, und angemessen erscheinen (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit).76 Eine Finanztransaktionssteuer ist geeignet, wenn sie für das Erreichen der zwingenden Gründe des Allgemeinwohlinteresses tatsächlich förderlich ist.77 Der EuGH legt hinsichtlich der Geeignetheit einer Maßnahme keine hohen Anforderungen an, sondern gewährt vielmehr den Mit- 69 Fischer zu Cramburg, Finanztransaktionssteuer: Europäisches Parlament lässt von der Kommission EU-weite Einführung prüfen, NZG 2010, 460 (460); Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das gemeinsame Finanztransaktionssteuersystem und zur Änderung der Richtlinie 2008/7/EG, KOM(2011) 594, S. 2, a.a.O. 70 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das gemeinsame Finanztransaktionssteuersystem und zur Änderung der Richtlinie 2008/7/EG, KOM (2011)594, S. 3, a.a.O. 71 Vogel, Der EU-Richtlinienvorschlag zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer, IStR 2012, S. 12 (15). 72 Teilweise wird das Ziel der Generierung von Steuereinnahmen sogar als das Hauptziel einer Finanztransaktionssteuer gesehen, vgl. etwa die Äußerungen von Heinz Zourek, Generaldirektion für Steuern und Zollunion bei der Europäischen Kommission, der im Rahmen der Veranstaltung der Europäischen Kommission „Ist eine EU-Finanztransaktionssteuer gerecht und sinnvoll gegen neue Finanzkrisen?“ am 18. Februar 2013 in Berlin, ausdrücklich von einer „Geldbeschaffungsaktion“ sprach. 73 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das gemeinsame Finanztransaktionssteuersystem und zur Änderung der Richtlinie 2008/7/EG, KOM (2011) 594, S. 4, a.a.O. 74 So auch Mayer/Heidfeld, Europarechtliche Aspekte einer Finanztransaktionssteuer, EuZW 2011, S. 373 (378). 75 Pache, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 2010, § 10 Rn. 224. 76 Vgl. Weber-Grellet, Neu-Justierung der EuGH-Rechtsprechung, Deutsches Steuerrecht (DStR) 2009, S. 1229 (1232); Berberich, Europarechtliche Kapitalverkehrsfreiheit und deutsches Erbschaftsteuerrecht, 2008, S. 188 f. 3. Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 23 Fachbereich Europa PE 6 – 3000 – 15/13 gliedstaaten bei der Einschätzung der Eignung einen Prognosespielraum.78 Verlangt wird allerdings , dass die nationale Regelung das Ziel in kohärenter und systematischer Weise verfolgt.79 Die Meinungen in Wissenschaft und Politik zur Förderlichkeit einer Finanztransaktionssteuer für das angestrebte Ziel der langfristigen Finanzmarktstabilität gehen weit auseinander. Eine eigene Analyse oder gar die Beantwortung der Frage nach der ökonomischen Sinnhaftigkeit einer solchen Maßnahme ist nicht Aufgabe dieses Gutachtens sondern der politischen Einschätzungsprärogative zuzuordnen. Es sei in diesem Zusammenhang auf die Anhörung von Sachverständigen zur Finanztransaktionssteuer im Finanzausschuss vom 17. Mai 201080, das Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen vom 1. April 201081, die Folgenabschätzung der Kommission für die Einführung einer Finanztransaktionssteuer auf Unionsebene82 und natürlich auf die Ausführungen zur Geeignetheit im aktuellen Richtlinienentwurf83 hingewiesen. Die Argumentationen von Befürwortern und Gegnern unterscheiden sich bereits in ihren Grundannahmen , die auf alle Formen einer Finanztransaktionssteuer übertragen werden können: Die Befürworter der Einführung einer Finanztransaktionssteuer auf nationaler Ebene gehen davon aus, dass Kapitalmärkte von einer exzessiven Liquidität aufgrund des Vorherrschens kurzfristig handelnder Spekulanten gekennzeichnet seien.84 Diese Spekulation wirke destabilisierend und sorge dafür, dass sich die Kurse von Finanztiteln von den Fundamentalwerten lösten. Dabei seien nicht Schwankungen der Vermögenspreise in der kurzen Frist, sondern die von übermäßiger Liquidität verursachte Blasenbildung in der mittleren und langen Frist problematisch für die Stabilität.85 Eine Finanztransaktionssteuer habe einen stabilisierenden Effekt, weil sie aufgrund 78 EuGH, Rs. C-293/93, Slg. 1994, I-4249, Rn. 22; EuGH, Rs. C-394/97, Slg. 1999, I-3599, Rn. 43; EuGH, Rs. C- 208/05, Slg. 2007, I-181, Rn. 39. 79 Sedlaczek/Züger, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Auflage 2012, Art. 65 AEUV, Rn. 47. 80 hib-Meldung vom 17.5.2010, „Völlig unterschiedliche Urteile der Sachverständigen zur Finanztransaktionssteuer “. Das Protokoll der Sitzung ist im Intranet abrufbar. 81 Europäische Kommission, Commission Staff Working Document – Innovative financing at a global level, SEC(2010) 409 final, S. 27, online abrufbar unter: http://ec.europa.eu/economyfinance/articles/international/documents/innovativefinancinggloballevelsec2 010409en.pdf zuletzt abgerufen am 13.02.2013. 82 Europäische Kommission, Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen, Zusammenfassung der Folgenabschätzung , Begleitunterlage zum/zur Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über das gemeinsame Transaktionssteuersystem und zur Änderung der Richtlinie 2008/7/EG, online abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=SEC:2011:1103:FIN:DE:PDF zuletzt abgerufen am 13.02.2013. 83 COM (2013) 71 final, S. 7, a.a.O. 84 Schulmeister/Schratzenstaller/Picek, A General Financial Transaction Tax – Motives, Revenues, Feasibility and Effects, in: Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO), März 2008, S. 7, online abrufbar unter: http://www.wifo.ac.at/wwa/downloadController/displayDbDoc.htm?item=S2008FINANCIALTRANSACTIO NTAX31819$.PDF zuletzt abgerufen am 13.02.2013; Paul/Neumann, Finanzmarktregulierung: Einführung einer Bankenabgabe und Finanztransaktionssteuer auf deutscher und europäischer Ebene, in: Friedrich-Ebert- Stiftung (Hrsg.), Managerkreis, 2011, S. 23. Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 24 Fachbereich Europa PE 6 – 3000 – 15/13 91 Pache, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 2010, § 10 Rn. 57. 85 Paul/Neumann, Finanzmarktregulierung: Einführung einer Bankenabgabe und Finanztransaktionssteuer auf deutscher und europäischer Ebene, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Managerkreis, 2011, S. 23. 3. Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 25 Fachbereich Europa PE 6 – 3000 – 15/13 der Besteuerung kurzfristiger Spekulationen zu längeren Anlagehorizonten der Investoren beitrüge .86 Die Gegner der Einführung einer Finanztransaktionssteuer halten Spekulation für einen unverzichtbaren Bestandteil der Preisfindungs- und Risikoallokationsprozesse.87 Insbesondere eine hohe Liquidität gewähre schnelle Anpassung hin zu Gleichgewichtspreisen. Würden diese Prozesse durch eine Finanztransaktionssteuer eingeschränkt werden, seien nicht eine höhere Finanzsystemstabilität , sondere höhere Transaktionskosten und unter Umständen sogar eine höhere Volatilität die Folge, die gerade Krisen auslösen könne.88 Auch wird als eine Folge der Einführung einer Finanztransaktionssteuer genannt, dass der Handel vermehrt in dem nicht regulierten außerbörslichen Bereich stattfände, und es dann zu einer Stärkung der Produkte und Märkte komme, die gerade den Ausbruch der Finanzkrise ausgelöst hätten.89 Es zeigt sich also, dass bzgl. der Geeignetheit der Einführung einer Finanztransaktionssteuer auf nationaler Ebene zur Sicherung der Finanzmarktstabilität in beide Richtungen argumentiert werden kann. Bei entsprechend kohärentem Vortrag eines Mitgliedstaats würde der EuGH voraussichtlich den Prognosespielraum der Mitgliedstaaten90 bei der Einschätzung der Eignung anerkennen. Stellt man auf das Ziel der höheren Steuereinnahmen ab, muss man der Maßnahme eine Eignung grundsätzlich zusprechen, jedoch müssten ggf. entstehende Verwaltungskosten für den Einzug der Steuer wohl gegengerechnet werden. Bejahte man die Geeignetheit der Einführung einer Finanztransaktionssteuer auf nationaler Ebene , wäre die Erforderlichkeit der Steuer zu prüfen. Diese fehlt, wenn der Zweck mit genauso wirksamen milderem Mittel erfüllt werden kann.91 Für den Zweck der Stabilität des Finanzmarktes durch die Verminderung der Gewinnmargen einiger, die Stabilität gefährdender Handelsformen ist ein milderes Mittel schwer denkbar. Die Einführung einer Steuerbelastung ist jedenfalls das mildere Mittel als ein Verbot der genannten Handelsformen. 86 Paul/Neumann, Finanzmarktregulierung: Einführung einer Bankenabgabe und Finanztransaktionssteuer auf deutscher und europäischer Ebene, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Managerkreis, 2011, S. 23. 87 Vgl. Habermeier/Kirilenko, Securities Transaction Taxes and Financial Markets, in: IMF Staff Working Papers Vol. 50 2003, S. 165 ff., online abrufbar unter: http://www.imf.org/external/pubs/ft/staffp/2002/00- 00/pdf/haberm.pdf zuletzt abgerufen am 13.02.2013. In diesem Sinne auch Däke, zitiert in: Redaktion beckaktuell , BdSt: Finanztransaktionssteuer verstößt gegen Grundsatz der Steuergerechtigkeit. 88 Zusammenfassung nach Paul/Neumann, Finanzmarktregulierung: Einführung einer Bankenabgabe und Finanztransaktionssteuer auf deutscher und europäischer Ebene, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Managerkreis , 2011, S. 23 89 Maunz, Das Risiko der Unvereinbarkeit, in Süddeutschen Zeitung vom 21.5.2010, online abrufbar unter: http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/finanztransaktionssteuer-europaweit-oder-gar-nicht-1.946597-2 zuletzt abgerufen am 13.02.2013. 90 Vgl. oben Fn. 78. 91 Pache, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 2010, § 10 Rn. 57. Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 26 Fachbereich Europa PE 6 – 3000 – 15/13 Schließlich müsste die Maßnahme auch angemessen sein. Zu prüfen ist insoweit die Zweck- Mittel-Relation92. Hierzu müsste eine genaue Analyse der Auswirkungen der Finanztransaktionssteuer in ihrer konkreten Form erfolgen, die an dieser Stelle nicht vorgenommen werden kann. Insofern wird wiederum auf die oben genannten, teilweise divergierenden Analysen verwiesen. 5.2.5. Ergebnis Es sprechen gute Gründe dafür, in der Einführung einer Finanztransaktionssteuer auf nationaler Ebene eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit zu sehen. Bejaht man eine Beschränkung, spricht viel für die Annahme, dass diese grundsätzlich durch zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses, zu denen nach hiesiger Einschätzung auch das Ziel der Stabilisierung der Finanzmärkte durch Verringerung von spekulativem Handel und – aufgrund der Steuerhoheit der Mitgliedstaaten – das Ziel der Erzielung höherer Steuereinnahmen zählen, gerechtfertigt werden kann. Jedoch sind aufgrund von zwingenden Erfordernissen des Allgemeininteresses begründete Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit nur zulässig, wenn die Beschränkungen verhältnismäßig sind, d. h. geeignet, erforderlich und angemessen. Der EuGH stellt hinsichtlich der Geeignetheit einer Maßnahme keine hohen Anforderungen, sondern gewährt vielmehr den Mitgliedstaaten bei der Einschätzung der Eignung einen Prognosespielraum. Diesen Prognosespielraum würde der EuGH voraussichtlich auch bei der Frage der Eignung der Finanztransaktionssteuer zur Erreichung der Ziele anerkennen. 5.3. Erfordernis der vorherigen Beendigung der VZ? Bleibt zu klären, ob die Teilnahme an einer VZ die Durchführung eines nationalen Alleingangs hindert, mit anderen Worten, ob ein Mitgliedstaat bei Fortbestand des Ermächtigungsbeschlusses des Rates und ohne eigenes Ausscheiden aus der VZ93 – quasi neben den im Rahmen der VZ andauernden Verhandlungen über eine Finanztransaktionssteuer – eine nationale Finanztransaktionssteuer einführen darf. Gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 AEUV können die Union und die Mitgliedstaaten in den Bereichen geteilter Zuständigkeit gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen. Sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat, nehmen die Mitgliedstaaten nach Art. 2 Abs. 2 S. 2 AEUV ihre Zuständigkeit war. Im Grundsatz können die Mitgliedstaaten also selbst gesetzgeberisch tätig werden, solange es keinen verbindlichen Unionsrechtsakt gibt. Bei dem Beschluss über die Ermächtigung zu einer VZ im Bereich der Finanztransaktionsteuer handelt es sich zwar um einen verbindlichen Rechtsakt im Zusammenhang mit der Finanztransaktionssteuer . Eine Wahrnehmung der Zuständigkeit durch die Union, die ein Tätigwerden der Mitgliedstaaten hinderte, dürfte darin jedoch nicht zu sehen sein: Das Bestehen oder Nichtbestehen einer mitgliedstaatlichen Regelungsbefugnis ist nämlich vom inhaltlichen Umfang bzw. der Reichweite der betreffenden Unionsregelung abhängig.94 Materielle Regelungen enthält der Er- 92 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 1, 2012, Rn. 562 f. 93 Dazu siehe oben 3. Ausscheiden aus der Verstärkten Zusammenarbeit?, S. 6ff. 94 Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 2 AEUV, Rn. 17 m.w.N. 91 Pache, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 2010, § 10 Rn. 57. Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 27 Fachbereich Europa PE 6 – 3000 – 15/13 mächtigungsbeschluss jedoch naturgemäß nicht. Ihm selbst ist auch nicht zu entnehmen, dass mitgliedstaatliche Versuche, eine Finanztransaktionssteuer einzuführen, ausgeschlossen werden sollen. Entsprechend steht es den Mitgliedstaaten nach hiesiger Auffassung frei, bis zum Erlass eines Durchführungsrechtsakts zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer selbst auf nationaler Ebene tätig zu werden. Grenze der mitgliedstaatlichen Regelungsbefugnis ist aber die Pflicht der Mitgliedstaaten zur loyalen Zusammenarbeit aus Art. 4 Abs. 3 EUV. Entsprechend sind jedenfalls solche mitgliedstaatlichen Maßnahmen ausgeschlossen, die die Bestrebungen zu einer Harmonisierung im Bereich der Finanztransaktionssteuer im Rahmen der VZ konterkarieren oder die gegen sonstige Bestimmungen der Verträge verstoßen95. Eine noch nicht erlassene Richtlinie entfaltet zwar noch keine Vorwirkung96, an die die Mitgliedstaaten gebunden wären. Die Ermächtigung zu einer VZ auf Antrag der Mitgliedstaaten beinhaltet aber die Verpflichtung der Mitgliedstaaten , in diesem Rahmen den Versuch einer Einigung auf einen Rechtsakt zu unternehmen und nicht parallel Maßnahmen zu erlassen, die dieses Vorhaben erschweren. 5.4. Ergebnis Im Ergebnis ist ein nationaler Alleingang zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer weiterhin denkbar, solange und soweit die nationalen Vorschriften das einschlägige EU-Sekundärrecht (insbesondere die Richtline 2008/7/EG) und das EU-Primärecht (insbesondere die Kapitalverkehrsfreiheit aus Art. 63 AEUV) nicht verletzen. 6. Außervertragliche Kooperation Abschließend sei darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit, eine VZ zu begründen, grundsätzlich einer völkerrechtlichen Kooperation der Mitgliedstaaten außerhalb der Verträge97 nicht im Wege steht.98 Dies folgt schon daraus, dass nach Art. 20 Abs. 1 EUV die Mitgliedstaaten die in den Verträgen vorgesehenen Organe, Verfahren und Mechanismen in Anspruch nehmen „können“ aber nicht müssen. Die Mitgliedstaaten sind nach allgemeinem Völkerrecht außerhalb der ausschließlichen Zuständigkeiten der Union prinzipiell frei, untereinander Vereinbarungen zu treffen , wenn sie durch diese nicht ihre vertraglichen Verpflichtungen verletzen und sich nicht über die Beachtung des Unionsrechts hinwegsetzen.99 Daraus folgt, dass auch eine Kooperation einiger 95 Dazu siehe oben 5.1 Vereinbarkeit mit europäischem Sekundärrecht, S. 13 und 5.2. Vereinbarkeit mit der primärrechtlichen Kapitalverkehrsfreiheit, S. 16. 96 Zur Vorwirkung von Richtlinien vor Ablauf ihrer jeweiligen Umsetzungsfrist vgl. Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 8. Auflage, 2012, Rn. 386 m.w.N. 97 Vgl. z.B. die Kooperation der Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit der Eurorettung und dem Abschluss des ESM-Vertrages. 98 Hatje, in: Schwarze, EU-Kommentar, 3. Auflage, 2012, Art. 20 EUV, Rn. 36 m.w.N. 99 Vgl. EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), Rn. 69 m.w.N./109/121, online abrufbar unter. http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:62012CJ0370:DE:HTML, zuletzt abgerufen am 19.02.2013. 91 Pache, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 2010, § 10 Rn. 57. Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 28 Fachbereich Europa PE 6 – 3000 – 15/13 Mitgliedstaaten außerhalb der Verträge die Interessen der Union wahren muss und den gemeinschaftlichen Besitzstand nicht antasten darf. Die Überlegungen zur Frage einer Einführung einer Finanztransaktionssteuer im nationalen Alleingang, insbesondere die Prüfung der Vereinbarkeit mit materiellem Unionsrecht, gelten insofern entsprechend. 7. Zusammenfassung Zusammenfassend ist festzuhalten, dass auch im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen im Rahmen der bestehenden VZ Möglichkeiten zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer bestehen : So kann die Kommission jederzeit einen neuen Legislativvorschlag zur Verhandlung vorlegen und auch die Einführung einer Finanztransaktionssteuer im nationalen Alleingang oder im dem Wege einer völkerrechtlichen Kooperation mit anderen Mitgliedstaaten ist nicht ausgeschlossen . Zudem ist denkbar, dass ein Mitgliedstaat durch einstimmigen Ratsbeschluss aller 27 EU Mitgliedstaaten aus der VZ entlassen und so der Weg für eine Einigung der verbleibenden Mitgliedstaaten geebnet wird. Zweifelhaft ist aber, ob ein einseitiges Ausscheiden eines Mitgliedstaates aus einer VZ rechtlich zulässig wäre. Insofern lassen sich sowohl Argumente dafür als auch dagegen finden. Der Ausschluss eines Mitgliedstaates aus der VZ gegen seinen Willen ist nach hiesiger Auffassung jedenfalls unzulässig. Schließlich erscheint es auch als rechtlich zulässig , dass der Rat (aus 27 EU-Mitgliedstaaten) die Aufhebung seinen Ermächtigungsbeschluss durch actus contrarius mit qualifizierter Mehrheit beschließt und zugleich einen neuen Ermächtigungsbeschluss über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit unter Teilnahme anderer Mitgliedstaaten fasst. - Fachbereich Europa -