© 2021 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 014/21 Zum unionsrechtlichen Rahmen der Wahrnehmung von Aufgaben und Befugnissen durch Grenzschutzbeamte eines Mitgliedstaates bei Frontex-Einsätzen an der Seeaußengrenze Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 014/21 Seite 2 Zum unionsrechtlichen Rahmen der Wahrnehmung von Aufgaben und Befugnissen durch Grenzschutzbeamte eines Mitgliedstaates bei Frontex-Einsätzen an der Seeaußengrenze Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 014/21 Abschluss der Arbeit: 26. März 2021 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 014/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Rechtlicher Rahmen der Wahrnehmung von Aufgaben und Befugnissen durch die Grenzschutzbeamten eines Mitgliedstaates bei gemeinsamen Aktionen gemäß der Verordnung 2019/1896 in dem Einsatzmitgliedstaat 5 2.1. Übersicht zur Abgrenzung der Verantwortlichkeiten 5 2.2. Ausübung von Exekutivbefugnissen bei gemeinsamen Aktionen 6 2.3. Bereitstellung von Einsatzkräften im Wege der Organleihe 6 2.4. Bindung der Einsatzkräfte an die Unionsgrundrechte 7 3. Zu den allgemeinen Verpflichtungen der von einem Mitgliedstaat für eine gemeinsame Aktion an der Seeaußengrenze bereitgestellten Grenzschutzbeamten 8 3.1. Art. 9 Seeaußengrenzen-VO (Hilfeleistung bei Seenot) 8 3.2. Art. 4 Seeaußengrenzen-VO (Grundsatz der Nichtzurückweisung) 10 3.3. Verhältnis von Art. 9 und 4 Seeaußengrenzen-VO 12 4. Zu den Verpflichtungen der von einem Mitgliedstaat bereitgestellten Grenzschutzbeamten im Falle drohender Rechtsverstöße durch Einsatzkräfte des Einsatzmitgliedstaates 13 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 014/21 Seite 4 1. Einleitung Der Fachbereich ist um Beantwortung mehrerer Fragen gebeten worden, die sich auf die Verpflichtungen der Bundespolizei bei der Beteiligung an einem Frontex-Einsatz wie „Poseidon Sea“1 in Griechenland beziehen. Hintergrund des Auskunftsersuchens sind Medienberichte u. a. über einen Frontex-Einsatz in griechischen Küstengewässern im August 2020, bei dem deutsche Beamte auf einem Schiff der Bundespolizei als erstes bei einem Schlauchboot mit ungefähr 40 Schutzsuchenden eingetroffen sein sollen.2 Entsprechend den Anweisungen der griechischen Küstenwache hätten die deutschen Beamten das Eintreffen griechischer Einsatzkräfte abgewartet und sich nach Übernahme durch die griechischen Einsatzkräfte entfernt. Im Anschluss sollen die Schutzsuchenden in ihrem Boot in türkische Gewässer zurückgeschleppt worden sein. Der erste Fragenkomplex zielt darauf, welche grundsätzlichen Verpflichtungen sich für die Bundespolizei aus der Seeaußengrenzen-Verordnung3 ergeben, wenn sie sich an einem Frontex-Einsatz beteiligt und hierbei zu einem überfüllten Schlauchboot gerufen wird, ohne dass sich ein anderes Schiff in unmittelbarer Nähe befindet. Gefragt wird insbesondere nach den in der Seeaußengrenzen -Verordnung enthaltenen Vorschriften über den Grundsatz der Nichtzurückweisung und die Verpflichtung zur Seenotrettung sowie dem Verhältnis dieser Bestimmungen. Ferner wird gefragt, inwieweit es mit internationalem und EU-Recht vereinbar wäre, die bei einem solchen Einsatz geretteten oder abgefangenen Personen der Küstenwache des Einsatzmitgliedstaates zu übergeben, wenn der Verdacht oder die Gefahr besteht, dass der Einsatzstaat diese Personen ohne individuelle Prüfung und ohne ihnen im Fall eines Asylgesuchs Zugang zum Asylsystem zu verschaffen in einen Drittstaat zurückweisen wird. Zur Beantwortung dieser Fragen ist zunächst allgemein auf den rechtlichen Rahmen der Wahrnehmung von Aufgaben und Befugnissen durch die Grenzschutzbeamten eines Mitgliedstaates bei gemeinsamen Aktionen gemäß der Verordnung 2019/1896 über die Europäische Grenz- und Küstenwache4 in dem Einsatzmitgliedstaat einzugehen (2.). Im Anschluss sind die beiden Fragen mit Fokus auf die unionsrechtlichen Vorgaben zu beantworten (3. und 4.). Auf konkrete Einzelfälle oder die Verwaltungspraxis ist dabei nicht einzugehen. 1 Hierzu allgemein, siehe die Informationen der Europäischen Kommission, abrufbar unter: https://ec.europa .eu/home-affairs/sites/homeaffairs/files/what-we-do/policies/securing-eu-borders/factsheets /docs/20161006/eu_operations_in_the_mediterranean_sea_de.pdf 2 Der Spiegel vom 6.2.2021, Die Akte Frontex; Der Spiegel vom 28.11.2020, Deutsche Bundespolizisten in illegalen Pushback verwickelt. 3 Verordnung (EU) Nr. 656/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung von Regelungen für die Überwachung der Seeaußengrenzen im Rahmen der von der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union koordinierten operativen Zusammenarbeit. 4 Verordnung (EU) 2019/1896 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2019 über die Europäische Grenz- und Küstenwache und zur Aufhebung der Verordnungen (EU) Nr. 1052/2013 und (EU) 2016/1624. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 014/21 Seite 5 2. Rechtlicher Rahmen der Wahrnehmung von Aufgaben und Befugnissen durch die Grenzschutzbeamten eines Mitgliedstaates bei gemeinsamen Aktionen gemäß der Verordnung 2019/1896 in dem Einsatzmitgliedstaat Die Wahrnehmung von Aufgaben und Befugnissen durch die Grenzschutzbeamten eines Mitgliedstaates bei gemeinsamen Aktionen gemäß der Verordnung 2019/1896 erfolgt in einem komplexen rechtlichen Umfeld der gemeinsamen Politik der Union in den Bereichen Asyl, Einwanderung und Kontrollen an den Außengrenzen (Dritter Teil, Titel V des AEUV). 2.1. Übersicht zur Abgrenzung der Verantwortlichkeiten Bei der Verwaltung der Außengrenze und bei Maßnahmen in Bezug auf die Rückkehr von Drittstaatsangehörigen unterliegen die Mitgliedstaaten verschiedenen unionsrechtlichen Verpflichtungen , wie dem Schengener Grenzkodex5, der Rückführungs-RL6 und der Seeaußengrenzen-VO7. Hierbei sind bestimmte grundlegende Vorgaben wie der Grundsatz der Nichtzurückweisung zu beachten. Diese von den Mitgliedstaaten durchzuführenden unionsrechtlichen Vorgaben sind ferner Gegenstand der Verordnung 2019/1896 über die Europäische Grenz- und Küstenwache und werden darin , zusammen mit weiteren Komponenten, unter das Konzept der sog. „integrierten europäischen Grenzverwaltung“ gefasst (Art. 3). Die integrierte europäische Grenzverwaltung soll zwar – wie es in Art. 7 Abs. 1 der Verordnung 2019/1896 heißt – von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten und der EU-Agentur Frontex in „gemeinsamer Verantwortung“ wahrgenommen werden . Unklar ist allerdings, welche Bedeutung dieser allgemeinen Vorschrift für die konkrete Zuordnung von Verantwortlichkeiten bei der Wahrnehmung bestimmter Aufgaben und Befugnissen zukommt. Rechtsprechung des EuGH liegt hierzu, soweit ersichtlich, nicht vor. Die speziellen Vorschriften der Verordnung 2019/1896 deuten indes darauf hin, dass die Zuordnung von Verantwortlichkeiten nach wie vor bereichs- und aufgabenspezifisch zu erfolgen hat. Dies gilt insbesondere für die Ausübung von Exekutivbefugnissen. So fällt die Bestimmung der innerstaatlich zuständigen Behörden und der exekutive Vollzug von unionsrechtlichen Vorgaben im Bereich der Verwaltung der Außengrenze gemäß dem Schengener Grenzkodex und von Maßnahmen in Bezug auf die Rückkehr von Drittstaatsangehörigen gemäß der Rückführungs-RL grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Dies erkennt die Verordnung 2019/1896 in verschiedener Weise an, und zwar allgemein durch entsprechende Zuständigkeitsvorbehalte zugunsten der Mitgliedstaaten (Art. 7, ErwG 12), ferner durch die Festlegung des konkreten und somit beschränkten Aufgabenbereichs von Frontex (Art. 10) und im Wege der terminologischen 5 Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex). 6 Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger. 7 Verordnung (EU) Nr. 656/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung von Regelungen für die Überwachung der Seeaußengrenzen im Rahmen der von der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union koordinierten operativen Zusammenarbeit Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 014/21 Seite 6 Anknüpfung an einschlägigen Bestimmungen des Schengener Grenzkodex und der Rückführungs -RL (Art. 2, 3). Nicht zuletzt folgt dies auch aus den ausdrücklichen Begrenzungen diverser Einzelbestimmungen der Verordnung 2019/1896, etwa in Bezug auf die Ausübung von Exekutivbefugnissen in dem Einsatzmitgliedstaat (Art. 37-39, 43, 82), worauf im Weiteren noch näher einzugehen sein wird. Vor diesem Hintergrund ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Verantwortung für die Wahrnehmung bestimmter Aufgaben und Befugnisse im Verhältnis der Union und ihrer Agentur Frontex einerseits zu einzelnen Mitgliedstaaten und ihren innerstaatlich zuständigen Behörden andererseits, aber auch im Verhältnis zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten, nach Maßgabe der einschlägigen Regelungen bereichsspezifisch zu bestimmen ist. 2.2. Ausübung von Exekutivbefugnissen bei gemeinsamen Aktionen Die Wahrnehmung von Aufgaben und Befugnissen durch die Grenzschutzbeamten eines Mitgliedstaates bei gemeinsamen Aktionen erfolgt im Rahmen von Art. 36 ff. Verordnung 2019/1896. Hierbei kann ein Mitgliedstaat Frontex „um Unterstützung bei der Erfüllung seiner Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Außengrenzkontrolle ersuchen“ (Art. 37 Abs. 1). Frontex kann verschiedene Maßnahmen ergreifen, wie die Koordinierung gemeinsamer Aktionen und die Entsendung der ständigen Reserve sowie technischer Ausrüstung (Art. 37 Abs. 2). Zur Vorbereitung einer gemeinsamen Aktion wird zwischen dem Exekutivdirektor von Frontex, dem Einsatzmitgliedstaat und den teilnehmenden Mitgliedstaat ein verbindlicher Einsatzplan vereinbart (Art. 38). Dieser enthält u.a. „eine Beschreibung der Aufgaben, einschließlich derjenigen , die Exekutivbefugnisse erfordern […]“ (Buchst. d), „die Zusammensetzung der Teams […]“ (Buchst. e) sowie die „Befehls- und Kontrollvorschriften […]“ (Buchst. f). Während des Einsatzes „erteilt der Einsatzmitgliedstaat […] den Teams entsprechend dem Einsatzplan Anweisungen“ (Art. 43 Abs. 1). Die Agentur Frontex ist befugt, dem Einsatzmitgliedstaat über ihren Koordinierungsbeamten ihren Standpunkt zu den Anweisungen mitzuteilen; in diesem Fall trägt der Einsatzmitgliedstaat diesem Standpunkt Rechnung und kommt ihm soweit wie möglich nach (Art. 43 Abs. 2). Die Teammitglieder, die kein Statutspersonal sind, bleiben den Disziplinarmaßnahmen ihres Herkunftsmitgliedstaats unterworfen (Art. 43 Abs. 5). Die „Wahrnehmung der Aufgaben und Befugnisse durch Teammitglieder unterliegt – insbesondere wenn dafür Exekutivbefugnisse erforderlich sind – der Genehmigung des Einsatzmitgliedstaats in Bezug auf sein Hoheitsgebiet […]“ (Art. 82 Abs. 2). Teammitglieder dürfen „Aufgaben und Befugnisse nur unter den Anweisungen und grundsätzlich nur in Gegenwart von Grenzschutzbeamten […] des Einsatzmitgliedstaats wahrnehmen […]“ (Art. 82 Abs. 4). 2.3. Bereitstellung von Einsatzkräften im Wege der Organleihe Somit ist festzuhalten, dass die von einem Mitgliedstaat für den Einsatz in einem anderen Mitgliedstaat auf der Grundlage der Verordnung 2019/1896 für eine gemeinsame Aktion bereitgestellten Einsatzkräfte Aufgaben und Befugnisse nur unter den Anweisungen und grundsätzlich nur in Gegenwart von Grenzschutzbeamten des Einsatzmitgliedstaats wahrnehmen. Lediglich in Bezug auf Disziplinarmaßnahmen bleiben sie dem Recht ihres Herkunftsmitgliedstaats unterworfen . Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 014/21 Seite 7 Dieser von der Verordnung 2019/1896 vorgegebene Rahmen der Bereitstellung von Einsatzkräften für gemeinsame Aktionen wird im Schrifttum als Fall der Organleihe charakterisiert, bei der die Grenzschutzbeamten in die Hoheitsgewalt des Einsatzmitgliedstaates eingebunden werden und folglich dessen Hoheitsgewalt ausüben.8 Für die an einer gemeinsamen Aktion im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beteiligten Beamten der Bundespolizei besteht insoweit keine Bindung an die Grundrechte des Grundgesetzes.9 Sie sind vielmehr an Grundrechte des Einsatzmitgliedstaates und unter den Voraussetzungen des Art. 51 GRC an die Unionsgrundrechte gebunden . 2.4. Bindung der Einsatzkräfte an die Unionsgrundrechte Die von einem Mitgliedstaat für eine gemeinsame Aktion an der Seeaußengrenze im Wege einer Organleihe bereitgestellten Grenzschutzbeamten unterliegen bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben und Befugnisse insbesondere der Seeaußengrenzen-VO (vgl. Art. 82 Abs. 2 Verordnung 2019/1896). Die Seeaußengrenzen-VO enthält spezifische Vorgaben in Bezug auf die Verpflichtung zur Hilfeleistung bei Seenot (näher hierzu unter 3.1.) und den Grundsatz der Nichtzurückweisung (näher hierzu unter 3.2.), der in allgemeiner Form auch in anderen Sekundärrechtsbestimmungen enthalten ist, etwa in Art. 36 Abs. 2, Art. 80 Abs. 1 Verordnung 2019/1896, Art. 5 Rückführungs-RL, Art. 3, 4 Schengener Grenzkodex. Der Grundsatz der Nichtzurückweisung ist darüber hinaus als Unionsgrundrecht in Art. 18, 19 Abs. 2 GRC gewährleistet.10 Allgemein sind die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung unionsrechtlicher Vorgaben an die Unionsgrundrechte gebunden (Art. 51 Abs. 1 GRC). Dementsprechend sieht auch die Verordnung 2019/1896 eine Grundrechtsbindung der Teammitglieder einer gemeinsamen Aktionen explizit „bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben und Befugnisse“ vor (Art. 43 Abs. 4, Art. 82 Abs. 3). Welche Aufgaben und Befugnisse im Einzelnen darunter fallen, dürfte grundsätzlich von dem Umfang des jeweiligen Einsatzes gemäß dem Einsatzplan sowie den konkreten Anweisungen des Einsatzmitgliedstaates im Einzelfall abhängen. 8 Näher hierzu mit Blick auf die durch Verordnung 2019/1896 abgelösten Vorgängerregelungen, Mrozek, Grenzschutz als supranationale Aufgabe, 2013, S. 221 ff., insb. S. 227; Lehnert, Frontex und operative Maßnahmen an den europäischen Außengrenzen, 2014, S. 330 ff.; Fritz, Die Bindung an die Europäische Grundrechtecharta bei operativen Einsätzen im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Grenzschutzagentur Frontex, 2020, S. 239 ff., insb. S. 243; auch die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages haben sich hiermit wiederholt befasst, siehe „Unterstützung von FRONTEX durch die Bundespolizei, die Polizei der Länder und die Bundeswehr“, WD 2 - 3000 - 188/18 (19.12.2018) und „Auslandseinsätze der Bundespolizei unter Frontex- Koordination“, WD 3 - 3000 - 334/11 (3.11.2011). 9 Vgl. Wissenschaftliche Dienste des Bundestages, „Auslandseinsätze der Bundespolizei unter Frontex-Koordination “, WD 3 - 3000 - 334/11 (3.11.2011), S. 4. 10 EuGH, Rs. C‑373/13, H.T., Rn. 65; EuGH, Rs. C-181/16, Gnandi, Rn. 53 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 014/21 Seite 8 3. Zu den allgemeinen Verpflichtungen der von einem Mitgliedstaat für eine gemeinsame Aktion an der Seeaußengrenze bereitgestellten Grenzschutzbeamten 3.1. Art. 9 Seeaußengrenzen-VO (Hilfeleistung bei Seenot) Nach Art. 9 Abs. 1 der Seeaußengrenzen-VO unterliegen die Mitgliedstaaten der Pflicht, „jedem Schiff und jeder Person in Seenot Hilfe zu leisten, und stellen während eines Seeeinsatzes sicher, dass ihre beteiligten Einsatzkräfte dieser Pflicht im Einklang mit dem Völkerrecht und unter Achtung der Grundrechte nachkommen“. In dem verbindlichen Einsatzplan sind die in Art. 9 Abs. 2 Seeaußengrenzen-VO aufgelisteten Bestimmungen vorzusehen. Hierzu zählen die Voraussetzungen einer Notsituation (Buchst. e), die bei der Prüfung des Vorliegens einer Notsituation zu berücksichtigenden Kriterien (Buchst. f), die Verpflichtung, die Rettungsleitstelle zu informieren und deren Anweisungen zu befolgen (Buchst. f bis i), sowie die zwischenzeitlich zu ergreifenden Maßnahmen (Buchst. g und h): „e) Ein Schiff oder die an Bord befindlichen Personen gelten insbesondere dann als in einer Notsituation befindlich, i) wenn gesicherte Informationen eingehen, dass sich eine Person oder ein Schiff in Gefahr befindet und sofortiger Hilfe bedarf, oder ii) wenn im Anschluss an eine Bereitschaftssituation weitere erfolglose Versuche zur Verbindungsaufnahme mit einer Person oder einem Schiff und umfangreichere erfolglose Nachforschungen auf die Wahrscheinlichkeit hindeuten, dass eine Notsituation vorliegt, oder iii) wenn Informationen eingehen, die darauf hinweisen, dass die Betriebstüchtigkeit eines Schiffs in einem Ausmaß beeinträchtigt ist, dass eine Notlage wahrscheinlich ist. f) Die beteiligten Einsatzkräfte berücksichtigen bei der Prüfung, ob sich das Schiff in einer Ungewissheits-, Bereitschafts- oder Notsituation befindet, alle einschlägigen Informationen und Beobachtungen und übermitteln sie an die zuständige Rettungsleitstelle; dazu gehören unter anderem Informationen darüber, i) ob ein Hilfeersuchen besteht, auch wenn ein solches Ersuchen nicht der einzige Faktor für die Feststellung sein darf, dass eine Notsituation vorliegt; ii) ob das Schiff seetüchtig ist und wie wahrscheinlich es ist, dass das Schiff seinen Zielort nicht erreichen wird; iii) ob die Anzahl der an Bord befindlichen Personen in einem angemessenen Verhältnis zur Art und zum Zustand des Schiffs steht; iv) ob die notwendigen Vorräte wie Treibstoff, Wasser und Nahrungsmittel für die Weiterfahrt bis zur Küste vorhanden sind; Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 014/21 Seite 9 v) ob eine qualifizierte Besatzung und Schiffsführung vorhanden sind; vi) ob eine leistungsfähige Sicherheits-, Navigations- und Kommunikationsausrüstung vorhanden ist; vii) ob Personen an Bord sind, die dringend medizinische Hilfe benötigen; viii) ob Tote an Bord sind; ix) ob Schwangere oder Kinder an Bord sind; x) wie Wetterbedingungen und Seegang, einschließlich Wetter- und Seewettervorhersage , sind. g) Während die beteiligten Einsatzkräfte die Anweisungen der Rettungsleitstelle abwarten, treffen sie alle geeigneten Maßnahmen, um die Sicherheit der Betroffenen zu gewährleisten . h) Gilt ein Schiff als in einer Ungewissheits-, Bereitschafts- oder Notsituation befindlich, weigern die Personen an Bord sich aber, Hilfe anzunehmen, so informieren die beteiligten Einsatzkräfte die zuständige Rettungsleitstelle und befolgen deren Anweisungen. Die beteiligten Einsatzkräfte treffen im Rahmen der Sorgfaltspflicht weiterhin alle für den Schutz der betroffenen Personen erforderlichen Maßnahmen; dabei wird das Schiff beobachtet und werden alle Maßnahmen vermieden, die die Lage verschlechtern oder die Verletzungs- oder Lebensgefahr vergrößern könnten. i) Reagiert die für den Such- und Rettungsbereich zuständige Rettungsleitstelle eines Drittstaats nicht auf die von den beteiligten Einsatzkräften übermittelten Informationen, so nehmen Letztere Verbindung zur Rettungsleitstelle des Einsatzmitgliedstaats auf, es sei denn, dass nach Ansicht dieser beteiligten Einsatzkräfte eine andere international anerkannte Rettungsleitstelle besser in der Lage ist, die Koordinierung des Such- und Rettungseinsatzes zu übernehmen.“ Die in der vorstehend zitierten Bestimmung enthaltenen Verpflichtungen richten sich in erster Linie an „die beteiligen Einsatzkräfte“, etwa wenn es um die Verpflichtung zur Prüfung des Vorliegens einer Notsituation gemäß Art. 9 Abs. 2 Buchst. f der Seeaußengrenzen-VO geht. Bei den beteiligten Einsatzkräften handelt es sich nach der Begriffsbestimmung in Art. 2 Nr. 5 Seeaußengrenzen -VO allgemein um „die See-, Land- oder Lufteinsatzkräfte unter der Verantwortung des Einsatzmitgliedstaats oder eines beteiligten Mitgliedstaats, die an einem Seeeinsatz teilnehmen“. Die Seeaußengrenzen-VO grenzt nicht näher ein, welches Teammitglied im Rahmen einer gemeinsamen Aktion gemäß der Verordnung 2019/1896 damit im Einzelnen gemeint ist. In den Erwägungsgründen der Seeaußengrenzen-VO findet sich lediglich der Hinweis, dass es sich nach dem Völkerrecht bei der Seenothilfe um eine Verpflichtung handelt, die jeder Staat dem Kapitän eines seine Flagge führenden Schiffes aufzuerlegen hat (ErwG 8, 14). Dies ergibt sich ausdrücklich aus Art. 98 Abs. 1 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 014/21 Seite 10 Sofern die beteiligen Einsatzkräfte aufgrund der Umstände der Einzelfalles vom Vorliegen einer Notsituation gemäß Art. 9 Abs. 2 Buchst. f Seeaußengrenzen-VO ausgehen müssen, sind sie verpflichtet , „alle geeigneten Maßnahmen“ bzw. „alle für den Schutz der betroffenen Personen erforderlichen Maßnahmen“ zu treffen (Art. 9 Abs. 2 Buchst. g und h Seeaußengrenzen-VO). Hierbei ist neben der Sicherheit der betroffenen Personen auch die Sicherheit der beteiligten Einsatzkräfte und die Sicherheit Dritter zu gewährleisten (Art. 3 Seeaußengrenzen-VO). Diese kann je nach Umständen des Einzelfalls (etwa der Größe und Ausstattung des Rettungsschiffs) bedeuten, dass die betroffenen Personen an Bord genommen werden müssen. Bei der Prüfung des Vorliegens einer Notsituation empfiehlt das UNHCR einen „humanitarian and precautionary approach “ zugrunde zu legen. In der Sache entspricht dieser Ansatz einer Anwendung der in Art. 9 Abs. 2 Buchst. g Seeaußengrenzen-VO genannten Kriterien, worauf das UNHCR ausdrücklich hinweist.11 3.2. Art. 4 Seeaußengrenzen-VO (Grundsatz der Nichtzurückweisung) Die von einem Mitgliedstaat im Rahmen einer gemeinsamen Aktion gemäß der Verordnung 2019/1896 bereitgestellten Grenzschutzbeamten üben Hoheitsgewalt des Einsatzmitgliedstaates aus (hierzu unter 2.3.). Der hierbei zu wahrende Grundsatz der Nichtzurückweisung ist in verschiedenen unionsrechtlichen Bestimmungen enthalten (u.a. Art. 4 Seeaußengrenzen-VO, näher hierzu unter 2.4.) und im Einklang mit den völkerrechtlichen Refoulement-Verbot auszulegen (vgl. ErwG 8, 9, 12, 13, 17 der Seeaußengrenzen-VO). Von diesen Vorschriften enthält Art. 4 Seeaußengrenzen-VO die konkretesten Vorgaben in Bezug auf die Wahrung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung: Artikel 4 Schutz der Grundrechte und Grundsatz der Nichtzurückweisung (1) Keine Person darf unter Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung in ein Land, in dem für sie unter anderem das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter, der Verfolgung oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht oder in dem ihr Leben oder ihre Freiheit wegen ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit , sexuellen Ausrichtung, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder aufgrund ihrer politischen Überzeugung gefährdet wäre oder in dem für sie eine ernsthafte Gefahr der Ausweisung, Abschiebung oder Auslieferung in ein anderes Land unter Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung besteht, ausgeschifft, einzureisen gezwungen oder verbracht werden oder auf andere Weise den Behörden eines solchen Landes überstellt werden. (2) Bei der Prüfung der Möglichkeit einer Ausschiffung in einen Drittstaat im Rahmen der Planung eines Seeeinsatzes berücksichtigt der Einsatzmitgliedstaat in Abstimmung 11 UNHCR, General legal considerations: search-and-rescue operations involving refugees and migrants at sea, 2017, abrufbar unter: https://www.refworld.org/pdfid/5a2e9efd4.pdf, Rn. 10, dortige Fn. 23: „ […] the factors it sets out may serve as a useful summary of relevant considerations for implementing SAR obligations at international law, consistent with the approach recommended here“. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 014/21 Seite 11 mit beteiligten Mitgliedstaaten und der Agentur die allgemeine Lage in diesem Drittstaat. […] (3) Bevor die abgefangenen oder geretteten Personen während eines Seeeinsatzes in einen Drittstaat ausgeschifft, einzureisen gezwungen oder verbracht oder auf andere Weise den Behörden eines Drittstaats überstellt werden, nutzen die beteiligten Einsatzkräfte, unter Berücksichtigung der Bewertung der allgemeinen Lage in dem Drittstaat gemäß Absatz 2 und unbeschadet des Artikels 3, alle Möglichkeiten, um die Identität der abgefangenen oder geretteten Personen festzustellen, ihre persönliche Situation zu bewerten, sie über ihren Zielort in einer Weise zu informieren, die die betreffenden Personen verstehen oder bei der vernünftigerweise davon ausgegangen werden kann, dass sie sie verstehen, und geben ihnen Gelegenheit, etwaige Gründe vorzubringen, aufgrund derer sie annehmen , dass die Ausschiffung an dem vorgeschlagenen Ort gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen würde. […] (4) Während eines gesamten Seeeinsatzes tragen die beteiligten Einsatzkräfte den besonderen Bedürfnissen von Kindern, einschließlich unbegleiteter Minderjähriger, von Opfern des Menschenhandels, von Personen, die dringend medizinischer Hilfe bedürfen, von Personen mit Behinderungen, von Personen, die internationalen Schutz benötigen, und von anderen Personen, die sich in einer besonders schwierigen Situation befinden, Rechnung. […] (6) Die beteiligten Einsatzkräfte führen ihre Aufgaben unter uneingeschränkter Achtung der Menschenwürde durch. […]“ (Unterstreichung hinzugefügt) Art. 4 Seeaußengrenzen-VO formuliert in Absatz 1 zunächst eine Verpflichtung zum Unterlassen bestimmter Maßnahmen („Keine Person darf unter Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung […], ausgeschifft, einzureisen gezwungen oder verbracht werden oder auf andere Weise […] überstellt werden“). Der Wortlaut dieser Bestimmung enthält keine Anhaltspunkte dafür , dass der Grundsatz der Nichtzurückweisung auch eine eigenständige, vom Vorliegen einer Notsituation gemäß Art. 9 Seeaußengrenzen-VO losgelöste, Verpflichtung etwa zur Aufnahme der betroffenen Personen an Bord eines am Einsatzort befindlichen mitgliedstaatlichen Schiffes begründet . Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem zugrunde liegenden völkerrechtlichen Refoulement -Verbot.12 Eine Pflicht zur Aufnahme von Migranten und Flüchtlingen auf ein Schiff besteht nach Art. 98 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen nur, wenn ein Fall der Seenot vorliegt.13 12 Ausführlich hierzu Wissenschaftliche Dienste des Bundestages, „Seenotrettung im Mittelmeer, Rechte und Pflichten von Schiffen nach der SAR-Konvention und Ausprägungen des Refoulement-Verbots auf Hoher See“, WD 2 - 3000 - 013/18 (13.2.2018), S. 10 ff. 13 Wissenschaftliche Dienste des Bundestages, „Seenotrettung im Mittelmeer, Rechte und Pflichten von Schiffen nach der SAR-Konvention und Ausprägungen des Refoulement-Verbots auf Hoher See“, WD 2 - 3000 - 013/18 (13.2.2018), S. 11. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 014/21 Seite 12 Im Unterschied zu Absatz 1 der Bestimmung in Art. 4 Seeaußengrenzen-VO formulieren insbesondere deren Absätze 2, 3 und 4 auch bestimmte positive Verpflichtungen. Absatz 2 UAbs. 1 verlangt von dem Einsatzmitgliedstaat, bei der Prüfung der Möglichkeit einer Ausschiffung in einen Drittstaat „im Rahmen der Planung eines Seeeinsatzes“ die allgemeine Lage in diesem Drittstaat zu berücksichtigen und sich hierbei mit den beteiligten Mitgliedstaaten und Frontex abzustimmen. Absatz 3 UAbs. 1 verlangt für die Situation „während eines Seeeinsatzes“ eine individuelle Prüfung als Bedingung für eine Ausschiffung der betreffenden Personen an einem bestimmten Ort (Feststellung der Identität, Bewertung der persönlichen Situation, Erteilung von Informationen über den vorgeschlagenen Ort der Ausschiffung und Anhörung). Der Inhalt dieser Verpflichtung legt den Schluss nahe, dass die vorgeschriebene individuelle Prüfung nur vorzunehmen ist, wenn eine Ausschiffung der betreffenden Personen im Einzelfall konkret beabsichtigt ist („vorgeschlagener Ort der Ausschiffung“). Dies deckt sich auch mit den Vorgaben des völkergewohnheitsrechtlichen Refoulement-Verbots14 sowie den aus Art. 3 EMRK folgenden Verpflichtungen.15 Sofern die als erstes am Einsatzort eingetroffenen Grenzschutzbeamten keine Ausschiffung der betreffenden Personen vorbereiten oder durchführen, sind sie somit auch nicht zu einer individuellen Prüfung gemäß Art. 4 Abs. 3 Seeaußengrenzen-VO verpflichtet. Rechtsprechung des EuGH liegt hierzu jedoch, soweit ersichtlich, nicht vor. Absatz 4 der Bestimmung schreibt den beteiligten Einsatzkräften vor, „während eines gesamten Seeeinsatzes“ den besonderen Bedürfnissen der betreffenden Personen Rechnung zu tragen. Nach Absatz 6 haben sie ferner „ihre Aufgaben“ unter uneingeschränkter Achtung der Menschenwürde durchzuführen. Diese Vorgaben stehen systematisch neben den Verpflichtungen der anderen Absätze, weshalb davon auszugehen ist, dass sie als eigenständige Verpflichtungen unabhängig vom Eingreifen einer Prüfungspflicht gemäß Absatz 3 bestehen. Welche konkreten Maßnahmen hiernach zu ergreifen sind, ist von den Umständen des Einzelfalls abhängig. 3.3. Verhältnis von Art. 9 und 4 Seeaußengrenzen-VO Beim Vorliegen einer Notsituation sind die nach Art. 9 Seeaußengrenzen-VO gebotenen Maßnahmen zu treffen, um die Sicherheit der Betroffenen zu gewährleisten. Eine Ausschiffung der geretteten Personen in einen Drittstaat ist nach individueller Prüfung und unter Wahrung der weiteren in Art. 4 Seeaußengrenzen-VO genannten Voraussetzungen zulässig. Die Verpflichtungen in Art. 9 und 4 Seeaußengrenzen-VO schließen sich nicht gegenseitig aus und stehen auch sonst in keinem erkennbaren Spannungsverhältnis. 14 UNHRC, Advisory Opinion on the Extraterritorial Application of Non-Refoulement Obligations under the 1951 Convention relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol, 2007, abrufbar unter: https://www.refworld.org/pdfid/45f17a1a4.pdf, Rn. 22: „States have a duty to establish, prior to implementing any removal measure, that the person whom it intends to remove from their territory or jurisdiction would not be exposed to a danger of serious human rights violations such as those mentioned above.“ (Unterstreichung hinzugehfügt). 15 Vgl. zur Bedeutung von Art. 3 EMRK im Zusammenhang mit aufenthaltsbeendenden Maßnahmen, Grabenwarter /Pabel EMRK | § 20. Fundamentalgarantien Rn. 77-89 - beck-online, insb. Rn. 77, 80. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 014/21 Seite 13 4. Zu den Verpflichtungen der von einem Mitgliedstaat bereitgestellten Grenzschutzbeamten im Falle drohender Rechtsverstöße durch Einsatzkräfte des Einsatzmitgliedstaates Im Zusammenhang mit der Bereitstellung von Grenzschutzbeamten im Rahmen von gemeinsamen Aktionen gemäß der Verordnung 2019/1896 ist zunächst festzustellen, dass die zuständigen Behörden des Einsatzmitgliedstaates bei der Durchführung von Unionsrecht an den unionsrechtlichen Grundsatz der Nichtzurückweisung gebunden sind (siehe unter 2.4.). Dies gilt somit in jedem Fall für die in einer bestimmten Situation vor Ort anwesenden Teammitglieder, die auf Anweisung des Einsatzmitgliedstaates bestimmte Aufgaben und Befugnisse wahrnehmen (Art. 43 Abs. 4, Art. 82 Abs. 3), unabhängig davon, ob es sich um dessen eigene Grenzschutzbeamte handelt oder um solche, die dem Einsatzmitgliedstaat im Rahmen einer Organleihe gemäß der Verordnung 2019/1896 bereitgestellt wurden. Eine Bindung der von einem anderen Mitgliedstaat bereitgestellten Grenzschutzbeamte an diesen Grundsatz ist aber dann zweifelhaft, wenn – wie in der vorliegend zu prüfenden Frage vorausgesetzt – die betreffenden Grenzschutzbeamten sich auf Anweisung des Einsatzmitgliedstaats nach Eintreffen weiterer Einsatzkräfte von dem Einsatzort entfernen und somit an der nachfolgenden Zurückweisung von Schutzsuchenden durch die Einsatzkräfte des Einsatzmitgliedstaates nicht aktiv beteiligt sind. Da die bereitgestellten Grenzschutzbeamten Hoheitsgewalt des Einsatzmitgliedstaates ausüben (siehe hierzu unter 2.3.), ist das weisungsgemäße Entfernen vom Einsatzort auch nicht als Überstellung der betroffenen Personen an die Behörden eines anderen Landes im Sinne des Grundsatzes der Nichtzurückweisung zu werten. Es stellt sich daher die Frage, ob die betreffenden Grenzschutzbeamten in Bezug auf den konkreten Einsatz „Aufgaben und Befugnissen“ gemäß Art. 43 Abs. 4, Art. 82 Abs. 3 Verordnung 2019/1896 wahrnehmen und insoweit eine Durchführung von Unionsrecht gemäß Art. 51 Abs. 1 GRC vorliegt (siehe hierzu unter 2.4.). Denn nach der Verordnung 2019/1896 nehmen die bereitgestellten Einsatzkräfte überhaupt nur insoweit Aufgaben und Befugnisse des Einsatzmitgliedstaates wahr, als sie dazu vom Einsatzmitgliedstaat ermächtigt werden. Dies gilt besonders für Exekutivbefugnisse, die von den bereitgestellten Einsatzkräften nur unter den Anweisungen und grundsätzlich nur in Gegenwart von Grenzschutzbeamten des Einsatzmitgliedstaats wahrgenommen werden (siehe hierzu unter 2.2.). Auch ergeben sich aus der Verordnung 2019/1896 keine Vorgaben für den Einsatzmitgliedstaat dafür, welcher konkret vor Ort anwesender Einsatzkräfte er sich für die Vornahme bestimmter Exekutivmaßnahmen, wie der Durchführung einer individuellen Prüfung nach Maßgabe des Grundsatzes der Nichtzurückweisung, zu bedienen hat. Nach dem allgemeinen Grundsatz der Verfahrensautonomie16 der Mitgliedstaaten dürfte es sich hierbei um eine Entscheidung handeln, die in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt. Insoweit erschiene es zweifelhaft, den im Rahmen einer Organleihe bereitgestellten Einsatzkräften etwa mithilfe unionsgrundrechtlicher Schutzpflichten eine Aufgabe oder Befugnis zuzuweisen , die ihnen nach Maßgabe der Anweisungen des Einsatzmitgliedstaates im Einzelfall nicht zukommt . Eine solche unionsgrundrechtlich begründete Zuweisung wäre möglichweise als eine mit 16 Allgemein hierzu Calliess/Ruffert | EU-Vertrag (Lissabon) Art. 4 Rn. 61-78 - beck-online; Streinz | AEUV Art. 197 Rn. 1-7 - beck-online. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 014/21 Seite 14 Art. 51 Abs. 2 GRC nicht vereinbare Ausdehnung des Geltungsbereichs des Unionsrechts anzusehen .17 Selbst wenn man von einer Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte auf derartige Aspekte der innerstaatlichen Zuständigkeitsverteilung ausginge, wäre völlig unklar, welche konkreten Verpflichtungen zur Wahrung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung bzw. zur Verhinderung der drohenden Zurückschiebung durch die Einsatzkräfte des Einsatzmitgliedstaates sich daraus für die betreffenden Einsatzkräfte ergeben könnten, und an welche Voraussetzungen dies im Einzelnen geknüpft wäre, etwa im Hinblick auf Wahrscheinlichkeit und Intensität einer befürchteten Grundrechtsverletzung. Rechtsprechung des EuGH liegt hierzu, soweit ersichtlich, nicht vor. Von der Frage einer Verpflichtung der betreffenden Grenzschutzbeamten zur Verhinderung einer drohenden Zurückweisung durch die Einsatzkräfte des Einsatzmitgliedstaates könnte die Frage zu unterscheiden sein, ob die Anweisung an die betreffenden Grenzschutzbeamten, sich nach dem Eintreffen von Einsatzkräften des Einsatzmitgliedstaates vom Einsatzort zu entfernen, als solche mit den Unionsgrundrechten vereinbar ist, etwa wenn diese erkennbar allein dazu dient, eine „unbeobachtete“ Zurückweisung der Schutzsuchenden zu ermöglichen. Diese Frage könnte sich etwa in disziplinarrechtlicher Hinsicht stellen, wenn die betreffenden Beamten den Anweisungen der zuständigen Behörden des Einsatzmitgliedstaates im Einzelfall nicht Folge leisten und am Einsatzort verweilen. Auch hierzu liegt jedoch, soweit ersichtlich, keine Rechtsprechung des EuGH vor. Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass neben den Grundrechtebeobachtern, die die an gemeinsamen Aktionen beteiligten Frontex-Koordinierungsbeamte unterstützen (Art. 44 Abs. 3 Verordnung 2019/1896), auch alle anderen Teammitglieder verpflichtet sind, über schwere Menschenrechtsverletzungen zu berichten.18 Unter den Voraussetzungen des Art. 46 Abs. 4 Verordnung 2019/1896 ist der Exekutivdirektor von Frontex zudem zur Aussetzung oder Beendigung einer gemeinsamen Aktion verpflichtet. – Fachbereich Europa – 17 Siehe allgemein zur Bedeutung von Art. 51 Abs. 2 GRC, Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union | GRCh Art. 51 Rn. 70-75 - beck-online, insb. Rn. 73. 18 Vgl. Groß, Defizite des Grundrechtsschutzes bei FRONTEX-Einsätzen, ZAR 2020, 51 - beck-online (53).