© 2016 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 14/16 Ausschluss Homosexueller von der Blutspende Das Urteil des EuGH vom 29.4.2015 in der Rechtssache Léger Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 14/16 Seite 2 Ausschluss Homosexueller von der Blutspende Das Urteil des EuGH vom 29.4.2015 in der Rechtssache Léger Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 14/16 Abschluss der Arbeit: 14.3.2016 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 14/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Europäische Rechtsnormen zur Blutspende 4 3. Das Urteil des EuGH in der Rechtssache Léger 4 3.1. Das Urteil 4 3.2. Rechtslage in Deutschland 5 3.3. Konsequenzen des Urteils für die Rechtslage in Deutschland 6 3.3.1. Bindungswirkung von Vorabentscheidungsverfahren 6 3.3.2. Vorgaben des Urteils in der Rechtssache Léger 8 3.3.2.1. Beleg eines hohen Übertragungsrisikos 8 3.3.2.2. Gesetzesvorbehalt 9 3.3.2.3. Verhältnismäßigkeit eines Ausschlusses 9 3.4. Zwischenergebnis 10 4. Art. 168 Abs. 4 AEUV 10 4.1. Strengere nationale Schutzmaßnahmen 10 4.2. Maßstab für stärkere Schutzmaßnahmen 12 4.2.1. Das europäische Primärrecht als Grenze 12 4.2.2. Die Unionsgrundrechte als Grenze 13 4.3. Zwischenergebnis 13 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 14/16 Seite 4 1. Fragestellung Die nachfolgende Ausarbeitung befasst sich mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in der Rechtssache Léger zu der Zulässigkeit des Ausschlusses von Männern, die sexuelle Beziehungen mit Männern haben, (im Folgenden: MSM) von der Blutspende. Es werden zunächst die Vorgaben des Unionsrechts für den Bereich der Blutspende dargestellt (2.), bevor die Auswirkungen des Urteils des EuGH auf die deutsche Rechtslage untersucht (3.) und abschließend die Möglichkeit strengerer nationaler Schutzmaßnahmen nach Art. 168 Abs. 4 lit. a des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) erörtert wird (4.). 2. Europäische Rechtsnormen zur Blutspende Die Richtlinie 2002/98/EG1 trifft Vorgaben für die Qualitäts- und Sicherheitsstandards bei der Gewinnung , Testung und Verarbeitung von menschlichem Blut und Bestandteilen. Die Richtlinie 2004/33/EG2 dient zur Durchführung der Richtlinie 2002/98/EG und beinhaltet technische Anforderungen für Blut und Blutbestandteile. In Anhang III der Richtlinie 2004/33/EG sind die Eignungskriterien für Spender von Blut und Blutbestandteilen festgelegt. Nach Nr. 2.1 des Anhangs III der Richtlinie 2004/33/EG sind von der Blutspende ausgeschlossenen „Personen, deren Sexualverhalten ein hohes Übertragungsrisiko für durch Blut übertragbare schwere Infektionskrankheiten birgt.“ 3. Das Urteil des EuGH in der Rechtssache Léger 3.1. Das Urteil Dem EuGH wurde in dem Vorabentscheidungsverfahren in der Rechtssache Léger die Frage vorgelegt , „ob Nr. 2.1 des Anhangs III der Richtlinie 2004/33/EG dahin auszulegen ist, dass das in dieser Bestimmung enthaltene Kriterium für einen Ausschluss von der Blutspende, nämlich ein Sexualverhalten mit einem hohen Übertragungsrisiko für durch Blut übertragbare Infektionskrankheiten , es einem Mitgliedstaat verwehrt, eine dauerhafte Kontraindikation bei Blutspenden von Männern vorzusehen, die sexuelle Beziehungen zu Männern hatten.“3 Ausgangspunkt des Verfahrens war die Klage eines Mannes in Frankreich gegen die Entscheidung eines Arztes, ihm die Blutspende zu verweigern. Grundlage der Entscheidung des Arztes 1 Richtlinie 2002/98/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Qualitäts- und Sicherheitsstandards für die Gewinnung, Testung, Verarbeitung, Lagerung und Verteilung von menschlichem Blut und Blutbestandteilen und zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG, ABl. 2003, L 33/30, konsolidierte Fassung abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:02002L0098-20090807&qid=1457436626622&from=DE. 2 Richtlinie 2004/33/EG der Kommission vom 22. März 2004 zur Durchführung der Richtlinie 2002/98/EG des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich bestimmter technischer Anforderungen für Blut und Blutbestandteile , ABl. 2004, L 91/25, konsolidierte Fassung abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:02004L0033-20150109&qid=1457429446325&from=DE. 3 EuGH, Urt. v. 29.4.2015, Rs. C-528/13, ECLI:EU:C:2015:288 – Léger, Rn. 30. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 14/16 Seite 5 war eine Verordnung des Ministre de la Santé et des Sports, in deren Anhang II Kontraindiktionen aufgelistet sind, bei deren Vorliegen der Spender von der Blutspende ausgeschlossen ist. Eine dauerhafte Kontraindiktion besteht nach dieser Verordnung bei Blutspenden in dem Fall, dass ein Mann sexuelle Beziehungen zu einem Mann hatte. Der EuGH prüfte zunächst die Vereinbarkeit der Vorgabe der französischen Verordnung mit Nr. 2.1 des Anhangs III der Richtlinie 2004/33/EG. Er stellt dabei fest, dass die Formulierung in Nr. 2.1 „Personen, deren Sexualverhalten ein hohes Übertragungsrisiko für durch Blut übertragene Infektionskrankheiten birgt“ keine genauen Personenkategorien festlegt und den Mitgliedstaaten mithin einen Wertungsspielraum einräumt.4 Die Frage, inwiefern aufgrund von sexuellen Beziehungen des männlichen Spenders zu Männern ein hohes Übertragungsrisiko vorliegt, ist laut dem EuGH durch das vorlegende Gericht zu beurteilen. Der EuGH bewertete die diesbezüglichen Erkenntnisse zur Gruppe der MSM in Frankreich nicht. Er verlangt für die Einstufung einer Gruppe als Personen, deren Sexualverhalten ein hohes Übertragungsrisiko für durch Blut übertragene Infektionskrankheiten birgt, aber belastbare und relevante (aktuelle) Daten.5 In einem zweiten Schritt erörterte der EuGH die Frage, ob und unter welchen Bedingungen eine gesetzlich vorgegebene, dauerhafte Kontraindikation bei Blutspenden von Männern, die sexuelle Beziehungen zu Männern haben, mit den europäischen Grundrechten, insbesondere Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der EU (GrCH), vereinbar ist. Der EuGH erachtet ein gesetzlich geregeltes Blutspendeverbot für Männer, die sexuelle Beziehungen mit Männern hatten, unter zwei Bedingungen für vereinbar mit dem Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung gemäß Art. 21 Abs. 1 GrCH. Erstens muss geprüft bzw. ausgeschlossen sein, dass es nach dem aktuellsten Stand der Technik und unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit wirksame Techniken zum Nachweis von HIV bei dem individuellen Spender gibt.6 Zweitens darf es auch keine weniger belastenden Methoden als den Ausschluss geben, um ein hohes Gesundheitsschutzniveau der Empfänger der Blutspende sicherzustellen, beispielsweise durch einen Fragebogen und die persönliche Befragung des Spenders, wodurch die Verhaltensweisen genauer identifiziert werden können, die mit dem Gesundheitsrisiko für die Empfänger verbunden sind.7 Das Vorliegen dieser zwei Kriterien zu überprüfen, ist laut dem EuGH die Aufgabe des vorlegenden Gerichtes. Er trifft insoweit keine Entscheidung. 3.2. Rechtslage in Deutschland Im deutschen Recht ist, vergleichbar der Rechtslage in Frankreich, die Gruppe der MSM von der Abgabe von Blutspenden ausgeschlossen. 4 EuGH, Urt. v. 29.4.2015, Rs. C-528/13, ECLI:EU:C:2015:288 – Léger, Rn. 39. 5 EuGH, Urt. v. 29.4.2015, Rs. C-528/13, ECLI:EU:C:2015:288 – Léger, Rn. 44. 6 EuGH, Urt. v. 29.4.2015, Rs. C-528/13, ECLI:EU:C:2015:288 – Léger, Rn. 63 f. 7 EuGH, Urt. v. 29.4.2015, Rs. C-528/13, ECLI:EU:C:2015:288 – Léger, Rn. 65 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 14/16 Seite 6 Die Vorgaben des Unionsrechts zur Blutspende sind in Deutschland im Transfusionsgesetz (TFG) umgesetzt worden.8 In § 5 Abs. 1 Satz 2 TFG wird für die Zulassung eines Spenders festgelegt, dass diese nicht erfolgen soll, soweit und solange die spendewillige Person nach den Richtlinien der Bundesärztekammer von der Spendeentnahme auszuschließen oder zurückzustellen ist. 2.2.1 der Hämotherapierichtlinie der Bundesärztekammer bestimmt, dass „Personen, deren Sexualverhalten ein gegenüber der Allgemeinbevölkerung deutlich erhöhtes Übertragungsrisiko für durch Blut übertragbare schwere Infektionskrankheiten, wie HBV, HCV oder HIV bergen: […] Männer, die Sexualverkehr mit Männern haben (MSM)“9, dauerhaft von der Abgabe von Blutspenden ausgeschlossen sind. 3.3. Konsequenzen des Urteils für die Rechtslage in Deutschland Das Urteil des EuGH erging in einem Vorabentscheidungsverfahren, welches in Art. 267 AEUV geregelt ist. In Vorabentscheidungsverfahren entscheidet der EuGH auf Vorlage des Gerichts eines Mitgliedstaates über die Auslegung von Rechtsakten der Union. In der Rechtssache Léger entschied er über die Auslegung von Nr. 2.1 des Anhangs III der Richtlinie 2004/33/EG. Fraglich ist, ob die Auslegungsentscheidung des EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren Bindungswirkung nur für das vorlegende Gericht oder generell entfaltet. Nur wenn letzteres der Fall sein sollte, müssten sich die deutschen Hoheitsträger mit den Vorgaben des EuGH in der Rechtssache Léger auseinandersetzen. 3.3.1. Bindungswirkung von Vorabentscheidungsverfahren Die Frage der generellen Bindungswirkung von Auslegungsentscheidungen in Vorabentscheidungsverfahren , eine sog. Bindungswirkung erga omnes, ist umstritten. Vorliegend geht es um Vorabentscheidungsverfahren, in denen die Auslegung eines Rechtsaktes des Unionsrechts Verfahrensgegenstand ist. Der EuGH erklärt in ständiger Rechtsprechung zu den Bindungswirkungen eines Urteils in einem Vorabentscheidungsverfahren, in dem es um die Auslegung von Unionsrecht geht: „Durch die Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Artikel 177 EWG-Vertrag vornimmt, wird erläutert und erforderlichenfalls verdeutlicht, in welchem Sinn und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. Daraus folgt, daß die Gerichte die Vorschrift in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor Erlaß des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, anwenden können und müssen, 8 Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Transfusionsgesetzes und arzneimittelrechtlicher Vorschriften, BT-Drucks. 15/3593. 9 Richtlinien zur Gewinnung von Blut und Blutbestandteilen und zur Anwendung von Blutprodukten (Hämotherapie ), Bundesanzeiger vom 9.7.2010, Jahrgang 62, Nr. 101a, abrufbar unter http://www.pei.de/Shared- Docs/Downloads/blut/banz/haemotherapierichtlinien-anpassung-2010.pdf?__blob=publicationFile&v=1. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 14/16 Seite 7 wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung dieser Vorschriften betreffenden Streit vorliegen.“10 Die Bewertung dieser Entscheidungspraxis des EuGH in der Literatur ist uneinheitlich. Einige Stimmen sehen darin eine Entscheidung des EuGH für eine allgemeine Bindungswirkung seiner Urteile,11 andere nur eine eingeschränkte erga omes Wirkung,12 und wieder andere Stimmen beschränken die Bindungswirkung von Auslegungsentscheidungen in Vorabentscheidungsverfahren auf die Parteien des Verfahrens und sehen in der Rechtsprechung des EuGH lediglich die Grundlage einer gewissen „Breitenwirkung“ bzw. die „tatsächlich rechtsbildende Kraft“ seiner Rechtsprechung.13 Die Formulierung, dass die Auslegung eines Unionsrechtsaktes durch den EuGH auch auf Rechtsverhältnisse Anwendung findet, die vor dem Urteil entstanden sind, besagt indirekt, dass die Auslegung nicht nur für die konkret vorgelegte Fragestellung Bindungswirkung entfaltet, sondern darüber hinaus für alle Fälle, in denen der fragliche Unionsrechtsakt Wirkung entfaltet. Das spricht für eine Bindungswirkung erga omnes.14 Eine ausdrückliche Bindungswirkung der Vorabentscheidungsverfahren für letztinstanzliche Gerichte hat der EuGH zudem in dem Urteil in der Rechtssache C.I.L.F.I.T vorgegeben, in dem er erklärte, „daß ein Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, seiner Vorlagepflicht nachkommen muß, wenn in einem bei ihm schwebenden Verfahren eine Frage des Gemeinschaftsrechts gestellt wird, es sei denn, es hat festgestellt, […] daß die betreffende gemeinschaftsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war […].“15 Wenn ein letztinstanzliches nationales Gericht von der Auslegung des EuGH abweichen will, unterliegt es einer Vorlagepflicht, es ist mithin an die Auslegung des EuGH gebunden.16 Auf die Frage, ob ein Mitgliedstaat verpflichtet ist, seine Rechtsvorschriften anzupassen, wenn der EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren ein Urteil erlassen hat, aus dem sich die Unvereinbarkeit dieser Rechtsvorschriften mit dem Gemeinschaftsrecht ergibt, hat der EuGH geantwortet : „die Behörden des betreffenden Mitgliedstaats [sind] verpflichtet, aufgrund eines auf ein Vorabentscheidungsersuchen ergangenen Urteils, aus dem sich die Unvereinbarkeit nationaler 10 EuGH, Urt. v. 27.3.1980, Rs. 66, 127 und 128/79, Slg. 1980, 01237, ECLI:EU:C:1980:101 – Amministrazione delle finanze dello Stato/Salumi, Rn 9; EuGH, Urt. v. 22.10.1998, Rs. C-10/97 bis C-22/97, Slg. 1998, I-6307, E- CLI:EU:C:1998:498 – Ministero delle Finanze/IN.CO.GE.'90, Rn. 23. 11 Schwarze, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 267 AEUV, Rn. 71. 12 Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 50 EL, Stand: Mai 2013, Art. 267 AEUV, Rn. 104. 13 Classen, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, 3. Aufl. 2015, § 4 Rechtsschutz, Rn. 79; Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 267 AEUV, Rn. 93. 14 So auch: Frenz, Handbuch Europarecht, Band 5 – Wirkungen und Rechtsschutz, 2010, Rn. 3406. 15 EuGH, Urt. v. 6.10.1982, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415, ECLI:EU:C:1982:335 – C.I.L.F.I.T, Rn. 21. 16 Frenz, Handbuch Europarecht, Band 5 – Wirkungen und Rechtsschutz, 2010, Rn. 3405; Schwarze, EU-Kommentar , 3. Aufl. 2012, Art. 267 AEUV, Rn. 71. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 14/16 Seite 8 Rechtsvorschriften mit dem Gemeinschaftsrecht ergibt, die allgemeinen oder besonderen Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet sind, die Beachtung des Gemeinschaftsrechts in ihrem Hoheitsgebiet zu sichern. Den Behörden verbleibt die Wahl der zu ergreifenden Maßnahmen, doch müssen sie insbesondere dafür sorgen, dass das nationale Recht so schnell wie möglich mit dem Gemeinschaftsrecht in Einklang gebracht und den Rechten, die dem Bürger aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsen, die volle Wirksamkeit verschafft wird.“17 Das Urteil erklärt nur die Behörden des „betreffenden Mitgliedstaates“ (in der Rechtssache Léger wären das die französischen Behörden) für verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, um die Beachtung des Unionsrechts in ihrem Hoheitsgebiet zu sichern. Allerdings entspricht die deutsche Rechtslage, wie oben dargestellt , der Rechtslage in Frankreich. Aufgrund des Grundsatzes der Loyalität der Mitgliedstaaten gegenüber der Union nach Art. 4 Abs. 3 des Vertrags über die EU (EUV) könnte daher argumentiert werden, dass auch die deutschen Hoheitsträger die Vorgaben des EuGH aus dem Urteil in der Rechtssache Léger beachten und prüfen müssen, ob das deutsche Recht mit den im Urteil postulierten Vorgaben im Einklang steht. Eine abschließende Feststellung zu der Pflicht der Mitgliedstaaten, Vorgaben des EuGH aus Vorabentscheidungsverfahren umzusetzen, ist mangels eindeutiger Rechtsprechung des EuGH nicht möglich. 3.3.2. Vorgaben des Urteils in der Rechtssache Léger Die Zurückweisung der Rechtssache durch den EuGH an die vorherige Instanz erschwert es, aus dem Urteil Vorgaben für die Mitgliedstaaten abzuleiten. Zwar hat der EuGH in dem Urteil die Voraussetzungen eines Ausschlusses von MSM von der Blutspende benannt, er hat diese jedoch nicht weiter konkretisiert und nicht selbst unter diese Voraussetzungen subsumiert, sondern diesbezüglich das vorlegende Gericht für zuständig erklärt. Grundsätzlich ist nach der Entscheidung des EuGH ein gesetzlich vorgegebener Ausschluss von MSM von der Blutspende im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie 2004/33/EG vereinbar mit Unionsrecht, vorausgesetzt, es gibt Daten, welche belegen, dass diese Gruppe ein hohes Übertragungsrisiko birgt, kein Test existiert, der sicher und zu verhältnismäßigen Kosten eine Überprüfung des Spenderblutes auf HIV ermöglicht und keine andere Möglichkeit besteht, die weniger weitgehend als ein Spendenausschluss ist, aber den hohen Gesundheitsschutz der Spendenempfänger ebenfalls sicherstellt. 3.3.2.1. Beleg eines hohen Übertragungsrisikos Der EuGH hat in seinem Urteil entschieden, das vorlegende Gericht müsse beurteilen, ob die existierenden Daten, auf denen die Einstufung von Männern, die sexuelle Beziehungen mit Männern hatten, als Gruppe mit einem hohen Übertragungsrisiko „im Lichte der derzeitigen medizinischen , wissenschaftlichen und epidemiologischen Erkenntnisse belastbar sind, und, wenn ja, ob sie nach wie vor relevant sind.“18 17 EuGH, Urt. v. 21.6.2007, Rs. C‑231/06 bis C‑233/06, Slg. 2007, I-05149, ECLI:EU:C:2007:373 – Jonkman, Rn. 38. 18 EuGH, Urt. v. 29.4.2015, Rs. C-528/13, ECLI:EU:C:2015:288 – Léger, Rn. 44. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 14/16 Seite 9 Die Entscheidung, die Gruppe der MSM generell von der Blutspende auszuschließen, setzt belastbare Daten voraus, die ein hohes Übertragungsrisiko dieser Gruppe belegen. Das hohe Übertragungsrisiko bei Männern, die sexuelle Beziehungen mit Männern hatten, ist nach den Ausführungen des Parlamentarischen Staatssekretärs Bahr auf die Frage der Abgeordneten Rawert im Jahr 2010 durch die epidemiologischen Daten des Robert Koch-Instituts hinreichend belegt gewesen .19 In einem Aufsatz aus 2015 wird die Ansicht vertreten, es gelte nach dem Urteil des EuGH in der Rechtssache Léger zu bewerten „ob die im Jahr 2012 erhobenen epidemiologischen Daten den aktuellen medizinischen, wissenschaftlichen und epidemiologischen Stand der Erkenntnisse der Wissenschaft darstellen und somit nach wie vor relevant sind.“20 3.3.2.2. Gesetzesvorbehalt Der EuGH betont in seiner Entscheidung, dass gemäß Art. 52 Abs. 1 GrCH jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein muss.21 Der Ausschluss der Gruppe der MSM von der Blutspende stellt nach Ansicht des EuGH eine Einschränkung dieser Männer in ihrem Recht aus Art. 21 Abs. 1 GrCH dar.22 Fraglich ist, ob die Hämotherapierichtlinie der Bundesärztekammer, welche MSM in Deutschland von der Blutspende ausschließt, eine gesetzliche Regelung im Sinne des Art. 52 Abs. 1 GrCH darstellt.23 Nach Ansicht der Literatur ist der Gesetzesvorbehalt in Art. 52 Abs. 1 GrCH weit zu verstehen.24 Es ist kein formelles Gesetz erforderlich, auch die Exekutive, Gerichte und intermediäre Gewalten können Gesetze im Sinne der GrCH erlassen. Entscheidend ist allein, dass die Regelung mit dem übrigen nationalen Recht in Einklang steht, zugänglich, vorhersehbar, hinreichend bestimmt und nicht willkürlich ist.25 Diese Kriterien werden von der Hämotherapierichtlinie der Bundesärztekammer erfüllt. 3.3.2.3. Verhältnismäßigkeit eines Ausschlusses Neben belastbaren Daten zum Beweis eines hohen Übertragungsrisikos und einer gesetzlichen Regelung fordert der EuGH zusätzlich, dass keine weniger weitgehenden Eingriffe zum Schutz 19 Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Daniel Bahr vom 29.1.2010 auf die Frage Nr. 70 der Abgeordneten Mechthild Rawert (SPD), BT-Drucks. 17/639. 20 Pühler/Hübner, Ausschluss oder Rückstellung von der Blutspende – aktuelle Entwicklungen, MedR 2015, S. 699 (705). 21 EuGH, Urt. v. 29.4.2015, Rs. C-528/13, ECLI:EU:C:2015:288 – Léger, Rn. 52. 22 EuGH, Urt. v. 29.4.2015, Rs. C-528/13, ECLI:EU:C:2015:288 – Léger, Rn. 50. 23 Insoweit zweifelnd: Ogorek, Diskriminierung durch Blutspendeverbot für homosexuelle Männer, JA 2015, S. 638 (640). 24 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 2. Aufl. 2013, Art. 52, Rn. 28; Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU, 3. Aufl. 2011, Art. 52, Rn. 20. 25 Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU, 3. Aufl. 2011, Art. 52, Rn. 20. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 14/16 Seite 10 der Gesundheit des Spendenempfängers existieren dürfen, damit der Ausschluss verhältnismäßig ist. In dem oben bereits zitierten Aufsatz heißt es diesbezüglich: „Dabei wird nach dem Urteil des EuGH insbesondere zu klären sein, ob ein hohes Gesundheitsschutzniveau der Empfänger von Blut und Blutprodukten ohne einen Dauerausschluss von MSM ggf. mit wirksamen Techniken zum Nachweis von HIV und weniger belastenden Methoden, wie beispielsweise standardisierten Anamnesebögen, sichergestellt werden kann.“26 Diese Möglichkeiten müssen von den Mitgliedstaaten geprüft (und verneint) werden, bevor die Gruppe der MSM dauerhaft von der Blutspende ausgeschlossen werden darf. 3.4. Zwischenergebnis Wenn von einer erga omnes Bindungswirkung des Urteils in der Rechtssache Léger ausgegangen wird, müssen die Mitgliedstaaten, in denen die Gruppe der MSM von der Blutspende ausgeschlossen ist, dies gesetzlich anordnen und prüfen, ob aktuelle Daten ein hohes Übertragungsrisiko dieser Gruppe belegen und keine anderen, weniger belastenden Methoden existieren, welche ein hohes Gesundheitsschutzniveau der Empfänger von Blutspenden sicherstellen. 4. Art. 168 Abs. 4 AEUV Im Bereich der gemeinsamen Sicherheitsanliegen im Bereich der öffentlichen Gesundheit teilt sich die Union gemäß Art. 4 Abs. 2 lit. k AEUV die Zuständigkeit mit den Mitgliedstaaten. Nach Art. 168 Abs. 4 lit. a AEUV erlassen das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Maßnahmen zur Festlegung hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards für Organe und Substanzen menschlichen Ursprungs sowie für Blut und Blutderivate. Die Kompetenzen der Union sind auf die Festlegung hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards beschränkt .27 Art. 168 Abs. 4 lit. a AEUV bestimmt, dass die Maßnahmen auf Unionsebene die Mitgliedstaaten nicht daran hindern, strengere Schutzmaßnahmen beizubehalten oder einzuführen. 4.1. Strengere nationale Schutzmaßnahmen Mit der Möglichkeit der Mitgliedstaaten, nach Art. 168 Abs. 4 lit. a AEUV strengere Schutzmaßnahmen zu erlassen, hat die französische Regierung in dem Vorabentscheidungsverfahren in der Rechtssache Léger argumentiert. In den Schlussanträgen des Generalanwalts Mengozzi ist die Position der französischen Regierung wie folgt zusammengefasst: „Drittens könne ein Mitgliedstaat, selbst wenn Nr. 2.1 des Anhangs III der Richtlinie 2004/33 dahin auszulegen wäre, dass für die Gruppe der MSM nur eine Rückstellung vorgesehen werden könne, jederzeit stärker schützende Maßnahmen anwenden und entscheiden, dass ein derart hohes Übertragungsrisiko einen Ausschluss rechtfertige. Die französische Regierung weist auf Art. 6 Buchst. a AEUV und Art. 168 26 Pühler/Hübner, Ausschluss oder Rückstellung von der Blutspende – aktuelle Entwicklungen, MedR 2015, S. 699 (705). 27 Wallrabenstein, in: Wegener, Europäische Querschnittspolitiken, 1. Aufl. 2014, § 8 Gesundheitspolitik, Rn. 70. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 14/16 Seite 11 Abs. 4 Buchst. a AEUV hin. Letzterer sehe vor, dass die Mitgliedstaaten solche Maßnahmen beibehalten oder einführen könnten, worauf nicht nur im 22. Erwägungsgrund, sondern auch in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2002/98 hingewiesen werde, in dem es heiße, dass diese Richtlinie die Mitgliedstaaten nicht daran hindere, strengere Schutzmaßnahmen beizubehalten oder einzuführen , sofern diese im Einklang mit dem Vertrag stünden. Da der Schutz der menschlichen Gesundheit und des Lebens von Personen nach ständiger Rechtsprechung an erster Stelle der von der Union geschützten Güter und Interessen stehe und es den Mitgliedstaaten freistehe, über das Schutzniveau und die Art und Weise seiner Erreichung zu entscheiden, sei ein Mitgliedstaat durch nichts daran gehindert, die Auffassung zu vertreten, dass die Gruppe der MSM wegen des hohen Risikos, dem Spender in dieser Gruppe ausgesetzt seien – ein Risiko, das durch die von der französischen Regierung vorgelegten epidemiologischen Daten bestätigt werde –, dauerhaft vom Spenden ausgeschlossen werden müsse. Somit sei die strengere Schutzmaßnahme, die ein solcher dauerhafter Ausschluss darstelle, im Hinblick auf das verfolgte legitime Ziel verhältnismäßig .“28 Es ging bei der Argumentation der französischen Regierung nicht um die Notwendigkeit einer Prüfung des hohen Übertragungsrisikos der Gruppe von MSM oder anderer Maßnahmen wie Bluttests oder Befragungen anstelle eines kompletten Ausschlusses der Gruppe der MSM, sondern um die Frage, ob eine zeitliche Rückstellung der Blutspenden von MSM anstelle eines dauerhaften Ausschlusses unionsrechtlich vorgegeben sei. Die Argumentation zu der Möglichkeit einer strengeren nationalen Regelung ist allerdings auf den hier in Frage stehenden Sachverhalt übertragbar. Fraglich ist, ob ein Mitgliedstaat nach Art. 168 Abs. 4 lit. a AEUV von den Vorgaben des EuGH in der Rechtssache Léger abweichen darf. Das EuGH Urteil hat in einem ersten Schritt Prüfungspflichten postuliert und in einem zweiten den Ausschluss von MSM von der Blutspende für unionsrechtswidrig erklärt, wenn entweder kein hohes Übertragungsrisiko für diese Gruppe belegt werden kann oder andere Maßnahmen (wie möglicherweise Bluttests oder Spenderbefragungen) zur Sicherstellung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus für Spendenempfänger existieren. Fraglich ist, ob die Mitgliedstaaten diese Vorgaben, gestützt auf Art. 168 Abs. 4 lit. a AEUV ignorieren und als „strengere Schutzmaßnahme“ ohne derartige Prüfungen oder trotz Prüfungsergebnissen , aufgrund von denen nach Ansicht des EuGH in der Rechtssache Léger ein genereller Ausschluss unbegründet oder unverhältnismäßig wäre, MSM als Gruppe von der Blutspende ausschließen dürfen. Es ist diesbezüglich insbesondere zu klären, ob ein solches Vorgehen eines Mitgliedstaates überhaupt eine stärkere Schutzmaßnahme i.S.d. Art. 168 Abs. 4 lit. a AEUV darstellt. Zu dem Begriff der „stärkeren Schutzmaßnahme“ in Art. 168 Abs. 4 lit. a AEUV existiert keine Rechtsprechung des EuGH. Auch in der Literatur finden sich - soweit ersichtlich - diesbezüglich keine Ausführungen. Der Begriff ist anhand von Wortlaut, Systematik, Sinn und Zweck der Norm auszulegen. Dem Wortlaut nach müsste eine nationale Regelung strenger sein als die Vorgaben des Unionsrechts. Es ist nicht ersichtlich, inwiefern der generelle Ausschluss der Gruppe der MSM von der Blutspende strenger ist als ein Ausschluss nach einer Prüfung, ob ein hohes Übertragungsrisiko dieser Gruppe belegt ist und ob es mildere Maßnahmen als einen generellen Ausschluss gibt. Denn nach Sinn und Zweck des Art. 168 Abs. 4 lit. a AEUV kann mit dem Begriff „streng“ nur gemeint sein, dass die nationale Regelung einen höheren Schutz- und Qualitätsstan- 28 Schlussanträge des Generalanwalts Paolo Mengozzi v. 17.7.2014, Rs. C-528/13, ECLI:EU:C:2014:2112 – Léger, Rn. 22 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 14/16 Seite 12 dard gewährleistet als die Unionsregelung. Das ist aber nicht der Fall, wenn die nationale Regelung die Gruppe der MSM pauschal von der Blutspende ausschließt, statt zunächst zu prüfen, ob ein hohes Übertragungsrisiko der Gruppe belegt ist und andere, weniger belastende Maßnahmen (wie möglicherweise Bluttests oder Spenderbefragungen) zur Sicherstellung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus existieren, bevor bei entsprechenden Ergebnissen, die Gruppe der MSM generell von der Blutspende ausgeschlossen wird. Eine Abweichung bzw. Missachtung der Vorgaben des EuGH in der Rechtssache Léger durch die Mitgliedstaaten stellt mithin nach hiesiger Einschätzung keine stärkere Schutzmaßnahme im Sinne des Art. 168 Abs. 4 lit. a AEUV dar. 4.2. Maßstab für stärkere Schutzmaßnahmen Für den Fall, dass eine Abweichung bzw. Missachtung der Vorgaben des EuGH in der Rechtssache Léger durch die Mitgliedstaaten als stärkere Schutzmaßnahme im Sinne des Art. 168 Abs. 4 lit. a AEUV angesehen werden sollte, ist zu prüfen, ob und wenn ja, inwiefern dem Unionsrecht Vorgaben für diese nationalen Maßnahmen zu entnehmen ist. 4.2.1. Das europäische Primärrecht als Grenze Der Generalanwalt betont in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Léger die Bindungswirkung des Unionsrechts für die Mitgliedstaaten. Diese Bindung entfalle nicht allein aufgrund der Regelung des Art. 168 Abs. 4 lit. a AEUV, wonach die Mitgliedstaaten durch Unionsvorgaben nicht daran gehindert werden, strengere Schutzmaßnahmen beizubehalten oder einzuführen. Der EuGH habe die Formulierung in Art. 168 Abs. 4 AEUV (bzw. der Vorgängernorm in Art. 152 Abs. 4 EG) „nie dahin ausgelegt, dass die nationalen Maßnahmen jeglicher Kontrolle ihrer Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht entzogen sind.“29 Der Generalanwalt erklärt unter Heranziehung verschiedener Entscheidungen des EuGH, dass die Vorgaben des europäischen Primärrechts bei der Ausübung von nationalen Befugnissen nach Art. 168 Abs. 4 lit. a AEUV zu beachten seien.30 So hatte der EuGH in der Rechtssache Humanplasma eine österreichische Schutzmaßnahme zur Einfuhr von Blutspenden an Art. 28 und 30 EG (heute: Art. 34 und 36 AEUV) gemessen und für nicht mit dem europäischen Primärrecht vereinbar erklärt.31 Der Generalanwalt stützt sich für die Bedeutung des Unionsrechts für strengere nationale Schutzmaßnahmen auch auf Art. 4 Abs. 2 UAbs. 1 der Richtlinie 2002/98/EG. Dort steht: „Diese Richtlinie hindert die Mitgliedstaaten nicht, in ihrem Hoheitsgebiet strengere Schutzmaßnahmen beizubehalten oder einzuführen, sofern diese in Einklang mit dem Vertrag stehen.“ 29 Schlussanträge des Generalanwalts Paolo Mengozzi v. 17.7.2014, Rs. C-528/13, ECLI:EU:C:2014:2112 – Léger, Rn. 39. 30 Schlussanträge des Generalanwalts Paolo Mengozzi v. 17.7.2014, Rs. C-528/13, ECLI:EU:C:2014:2112 – Léger, Rn. 39 ff. 31 EuGH, Urt. v. 9.12.2010, Rs. C-421/09, Slg. 2010, I-12869, ECLI:EU:C:2010:760 – Humanplasma. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 14/16 Seite 13 Nach Ansicht des Generalanwalts Mengozzi, der sich dafür auf Entscheidungen des EuGH in ähnlich gelagerten Rechtsfragen stützen kann, müssen die strengeren Schutzmaßnahmen der Mitgliedstaaten nach Art. 168 Abs. 4 lit. a AEUV mit den Vorgaben des europäischen Primärrechts im Einklang stehen. 4.2.2. Die Unionsgrundrechte als Grenze Die Mitgliedstaaten dürfen nach Art. 168 Abs. 4 lit. a AEUV strengere Schutzmaßnahmen erlassen , als die Union sie vorgibt. Fraglich ist, ob sie dabei die Vorgaben der GrCH achten müssen. Unionsgrundrechte sind von den Mitgliedstaaten gemäß Art. 51 Abs. 1 GrCH zu beachten, wenn sie Unionsrecht durchführen. Laut EuGH ist diese Vorgabe so zu verstehen, dass die Mitgliedstaaten die GrCH immer dann beachten müssen, wenn sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts tätig werden.32 Das ist der Fall, wenn die Mitgliedstaaten Richtlinien umsetzen, und zwar auch dann, wenn ihnen der betreffende Rechtsakt Spielräume einräumt.33 Allerdings lässt der EuGH in Konstellationen, in denen das nationale Recht nicht vollständig durch das Unionsrecht bestimmt wird, eine Anwendung nationaler Grundrechte genügen, soweit hierdurch weder das Schutzniveau der GrCH noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden.34 Die Möglichkeit des Erlasses strengerer nationaler Schutzmaßnahmen steht nach Art. 168 Abs. 4 lit. a AEUV im Ermessen der Mitgliedstaaten. Das nationale Recht wird mithin nicht vollständig durch das Unionsrecht bestimmt, so dass eine Bindung an die Unionsgrundrechte, insbesondere an Art. 21 Abs. 1 GrCH, nur insoweit in Betracht kommt, als infolge einer Anwendung der nationalen Grundrechte das Schutzniveau der GrCH, ihr Vorrang oder die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt würden. Das müsste gegebenenfalls geprüft werden, bevor Maßnahmen der Mitgliedstaaten allein an nationalen Grundrechten gemessen werden. 4.3. Zwischenergebnis Eine Missachtung der Vorgaben des EuGH in der Rechtssache Léger kann hiesiger Einschätzung nicht als strengere Schutzmaßnahme im Sinne des Art. 168 Abs. 4 lit. a AEUV angesehen werden . Und auch wenn die nationalen Vorgaben, die dem Urteil des EuGH zuwiderlaufen, als strengere Maßnahmen nach Art. 168 Abs. 4 lit. a AEUV qualifiziert würden, müssten sie weiterhin am europäischen Primärrecht gemessen werden. – Fachbereich Europa – 32 EuGH, Urt. v. 26.2.2013, Rs. C-617/10, ECLI:EU:C:2013:105 – Åkerberg Fransson, Rn, 19 f.; EuGH, Urt. v. 27.3.2014, Rs. C-265/13, ECLI:EU:C:2014:187 – Marcos, Rn. 29 ff; s. hierzu allgemein: Haratsch/Koenig/Pechstein , Europarecht, 9. Aufl. 2014, Rn. 676 ff. 33 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 2. Aufl. 2013, Art. 51, Rn. 18, mit Verweis auf EuGH, Urt. v. 27.6.2006, Rs. C-540/03, Slg. 2006, I-5809, ECLI:EU:C:2006:429 – Parlament/Rat, Rn. 22. 34 EuGH, Urt. v. 26.2.2013, Rs. C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107 – Melloni, Rn. 60; EuGH, Urt. v. 26.2.2013, Rs. C- 617/10, ECLI:EU:C:2013:105 – Åkerberg Fransson, Rn, 29.