© 2021 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 006/21 Vereinbarkeit eines nationalen Tierwohllabels mit dem Unionsrecht Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 006/21 Seite 2 Vereinbarkeit eines nationalen Tierwohllabels mit dem Unionsrecht Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 006/21 Abschluss der Arbeit: 05.03.2021 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 006/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Zwingendes nationales Tierwohllabel 4 2.1. Vorgaben der LMIV 4 2.2. Gemeinsames Marktordnungsrecht 7 2.3. Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34 AEUV 8 2.3.1. Eingriff 8 2.3.2. Rechtfertigung des Eingriffs 9 2.3.2.1. Ungeschriebener Rechtsfertigungsgrund des Verbraucherschutzes 10 2.3.2.2. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Art. 36 Satz 2 AEUV 10 2.3.2.2.1. Geeignetheit 11 2.3.2.2.2. Erforderlichkeit 11 2.3.2.2.3. Angemessenheit 12 2.4. Unionsgrundrechte 13 3. Freiwilliges nationales Tierwohllabel 14 3.1. Vorgaben des unionsrechtlichen Sekundärrechts 14 3.2. Warenverkehrsfreiheit, Art. 34 AEUV 14 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 006/21 Seite 4 1. Fragestellung Der Fachbereich Europa wurde beauftragt, die Vereinbarkeit eines nationalen Tierwohllabels mit dem Unionsrecht zu prüfen. Für die Zwecke dieser Untersuchung soll unter einem nationalen Tierwohllabel die Kennzeichnung tierischer Lebensmittel verstanden werden, aus der sich die Haltungsbedingungen – anhand verschiedener Stufen – der verarbeiteten Nutztiere erkennen lassen. Das Tierwohllabel selbst soll jedoch keine solchen Haltungsbedingungen festlegen. Die Einführung des Tierwohllabels erfolgt aufgrund einer mitgliedstaatlichen Maßnahme (bspw. aufgrund eines Bundesgesetzes ). Dem Auftrag folgend ist dabei zwischen einem zwingenden nationalen Tierwohllabel, bei dem sowohl für inländische als auch ausländische Waren die Verwendung des Tierwohllabels verpflichtend wäre (Ziff. 2.), und einem entsprechenden freiwilligen nationalen Tierwohllabel (Ziff. 3.) zu unterscheiden. 2. Zwingendes nationales Tierwohllabel Zunächst ist zu prüfen, ob ein zwingendes nationales Tierschutzlabel mit dem Unionsrecht vereinbar wäre. Hierzu ist zunächst auf die Vorgaben der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 über die Kennzeichnung von Lebensmitteln (LMIV)1 einzugehen (Ziff. 2.1.). Ferner sind die Vorgaben des Marktordnungsrechts zu berücksichtigen (Ziff. 2.2.) Im Anschluss ist zu prüfen, ob ein zwingendes nationales Tierwohllabel einen Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) darstellt (Ziff. 2.3.). Denkbar wäre auch ein Eingriff in die Grundrechte der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) (Ziff. 2.4.). 2.1. Vorgaben der LMIV Die LMIV legt gemäß Art. 2 Abs. 1 Satz 1 allgemeine Grundsätze, Anforderungen und Zuständigkeiten für die Information über Lebensmittel und insbesondere für die Kennzeichnung von Lebensmitteln fest und gilt gemäß Art. 3 Abs. 1 Satz 2 für alle Lebensmittel, die für den Endverbraucher bestimmt sind. 1 VERORDNUNG (EU) Nr. 1169/2011 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 25. Oktober 2011 betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1924/2006 und (EG) Nr. 1925/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 87/250/EWG der Kommission, der Richtlinie 90/496/EWG des Rates, der Richtlinie 1999/10/EG der Kommission, der Richtlinie 2000/13/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, der Richtlinien 2002/67/EG und 2008/5/EG der Kommission und der Verordnung (EG) Nr. 608/2004 der Kommission (Text von Bedeutung für den EWR) (ABl. L 304 vom 22.11.2011, S. 18), konsolidierte Fassung vom 01.01.2018. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 006/21 Seite 5 Konkrete Vorschriften über Kennzeichnungspflichten finden sich in den Art. 9 bis Art. 35 LMIV. Verpflichtende Vorschriften für vorverpackte Lebensmittel2 beziehen sich gemäß Art. 9 Abs. 1 LMIV auf die Bezeichnung des Lebensmittels (lit. a)); die verwandten Zutaten (lit. b – e)); die Nettofüllmenge des Lebensmittels (lit. f)); das Mindesthaltbarkeitsdatum oder das Verbrauchsdatum; Aufbewahrungs- und Verwendungsanweisungen (lit. g)); der Name oder die Firma und die Anschrift des Lebensmittelunternehmers (lit. h)); ggf. das Ursprungsland oder der Herkunftsort (lit. i)); eine Gebrauchsanleitung, falls es schwierig wäre, das Lebensmittel ohne eine solche angemessen zu verwenden (lit. j)); für Getränke mit einem Alkoholgehalt von mehr als 1,2 Volumenprozent die Angabe des vorhandenen Alkoholgehalts in Volumenprozent (lit. k)); eine Nährwertdeklaration (lit. l)).3 Weitere verpflichtende Angaben für bestimmte Arten oder Klassen von Lebensmitteln finden sich in Art. 10 LMIV. Kennzeichnungspflichten, die sich ausdrücklich auf das Tierwohl beziehen, sind dagegen in der LMIV nicht ersichtlich. Für nicht vorverpackte Lebensmittel trifft Art. 44 LMIV ergänzende Regelungen. Danach sind bei nicht vorverpackten Lebensmitteln allein die Angaben gemäß Art. 9 Abs. 1 lit. c) LMIV verpflichtend , Art. 44 lit. a) LMIV. Die anderen Angaben gemäß den Art. 9 und 10 LMVI sollen dagegen gemäß Art. 44 lit. b) LMIV nicht verpflichtend sein, es sei denn, die Mitgliedstaaten erlassen entsprechende nationale Vorschriften. Im Hinblick auf einzelstaatliche Maßnahmen finden sich Vorgaben im Kapitel VI der LMIV. Gemäß Art. 38 Abs. 1 LMIV dürfen die Mitgliedstaaten in Bezug auf die speziell durch die LMIV harmonisierten Aspekte einzelstaatliche Vorschriften weder erlassen noch aufrechterhalten, es sei denn, dies ist nach dem Unionsrecht zulässig. Allerdings dürfen die Mitgliedstaaten unbeschadet des Art. 39 LMIV einzelstaatliche Vorschriften zu Aspekten erlassen, die nicht speziell durch die LMIV harmonisiert sind, sofern diese Vorschriften den freien Verkehr der Waren, die dieser Verordnung entsprechen, nicht unterbinden, behindern oder einschränken, Art. 38 Abs. 2 LMIV.4 Ferner sieht Art. 39 Abs. 1 LMIV vor, dass ergänzend zu den in Art. 9 Abs. 1 und Art. 10 LMIV genannten verpflichtenden Angaben die Mitgliedstaaten nach dem Verfahren des Art. 45 LMIV 2 Die Definition eines verpackten Lebensmittels findet sich in Art. 2 Abs. 2 lit. e) LMIV: „vorverpacktes Lebensmittel “ jede Verkaufseinheit, die als solche an den Endverbraucher und an Anbieter von Gemeinschaftsverpflegung abgegeben werden soll und die aus einem Lebensmittel und der Verpackung besteht, in die das Lebensmittel vor dem Feilbieten verpackt worden ist, gleichviel, ob die Verpackung es ganz oder teilweise umschließt, jedoch auf solche Weise, dass der Inhalt nicht verändert werden kann, ohne dass die Verpackung geöffnet werden muss oder eine Veränderung erfährt; Lebensmittel, die auf Wunsch des Verbrauchers am Verkaufsort verpackt oder im Hinblick auf ihren unmittelbaren Verkauf vorverpackt werden, werden von dem Begriff „vorverpacktes Lebensmittel“ nicht erfasst;“; zur Abgrenzung siehe Kraus, in: Stein/Kraus, Lebensmittelrechts-Handbuch, 41. EL Juli 2020, II. C. 1., Rn. 78 ff. 3 Vgl. zu den einzelnen Kennzeichnungspflichten auch die Ausführungen von Kraus, in: Stein/Kraus, Lebensmittelrechts -Handbuch, 41. EL Juli 2020, II. C. 1., Rn. 78 ff.; Grube, in: Voit/Grube, LMIV, 2. Auflage 2016, Art. 9 LMIV, Rn. 18 ff.; ferner Meisterernst, in: Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, 177. EL Juli 2020, Art. 9 LMIV, Rn. 4 ff.. 4 Vgl. hierzu Meisterernst, in: Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, 177. EL Juli 2020, Art. 38 LMIV, Rn. 11-14; ferner Grube, in: Voit/Grube, LMIV, 2. Auflage 2016, Art. 9 LMIV, Rn. 8. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 006/21 Seite 6 Vorschriften erlassen können, die zusätzliche Angaben für bestimmte Arten oder Klassen von Lebensmitteln vorschreiben, die aus Gründen des a) Schutz der öffentlichen Gesundheit; b) Verbraucherschutz ; c) Betrugsvorbeugung; d) Schutz von gewerblichen und kommerziellen Eigentumsrechten , Herkunftsbezeichnungen, eingetragenen Ursprungsbezeichnungen sowie vor unlauterem Wettbewerb. gerechtfertigt sind. Nach Ansicht in der Literatur ist Art. 39 LMIV weit auszulegen , so dass die Einführung eines nationalen Tierwohllabels allein im Rahmen dieser Vorschrift erfolgen kann.5 Für die Einführung eines Tierwohllabels scheint von den genannten Gründen des Art. 39 Abs. 1 LMIV der Rückgriff auf den (tierwohlorientierten) Verbraucherschutz denkbar, zumal die sog. tierschutzrechtliche Querschnittsklausel des Art. 13 AEUV vom EuGH bei Auslegung von Sekundärrecht berücksichtigt wird.6 In der Literatur wird betont, dass entsprechende nationale Maßnahmen im Einklang mit der Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34 ff. AEUV stehen müssen.7 Mit Blick auf die Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34 AEUV und insbesondere auf den Umstand, dass der Verbraucherschutz in Art. 36 Satz 1 AEUV nicht ausdrücklich aufgeführt wird, weisen Stimmen in der Literatur auf die hohen Anforderungen hin, nach denen für einen Rückgriff auf Art. 39 Abs. 1 LMIV besonders gravierende Gründe des Verbraucherschutzes vorliegen müssen.8 Aufgrund der vorgenannten Ausführungen wird die Einführung eines verpflichtenden Tierwohllabels daher durch die LMIV nicht vollständig ausgeschlossen.9 Eine Entscheidung hierüber obliegt nach Einführung eines zwingenden Tierschutzlabels dem EuGH. In formeller Sicht ist das in Art. 45 LMIV beschriebene Verfahren zu wahren, das insbesondere eine Vorlagepflicht bei der Kommission und deren Recht zur Stellungnahme bzw. bei ablehnender Stellungnahme der Kommission ein sich anschließendes Prüfverfahren gemäß Art. 5 der Verordnung (EU) Nr. 182/201110 vorsieht.11 5 Gundel, ZLR 2016, 750, 756. 6 Gundel, ZLR 2016, 750, 757; ferner Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 13 AEUV, Rn. 6. 7 Grube, in: Voit/Grube, LMIV, 2. Auflage 2016, Art. 39 LMIV, Rn. 11 f.; Meisterernst, in: Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht , 177. EL Juli 2020, Art. 39 LMIV, Rn. 10. 8 Grube, in: Voit/Grube, LMIV, 2. Auflage 2016, Art. 39 LMIV, Rn. 11 f.; Meisterernst, in: Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht , 177. EL Juli 2020, Art. 39 LMIV, Rn. 10. 9 Siehe im Ergebnis auch Gundel, ZLR 2016, 750, 757. 10 VERORDNUNG (EU) Nr. 182/2011 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 16. Februar 2011 zur Festlegung der allgemeinen Regeln und Grundsätze, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren (Abl. EU 2011, L 55/13). 11 Vgl. hierzu die Ausführungen von Grube, in: Voit/Grube, LMIV, 2. Auflage 2016, Art. 45 LMIV sowie Meisterernst , in: Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, 177. EL Juli 2020, Art. 45 LMIV; Gundel, ZLR 2016, 750, 757 ff.. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 006/21 Seite 7 2.2. Gemeinsames Marktordnungsrecht Eine Grenze für die Einführung eines zwingenden Tierwohllabels könnte sich ferner aus der Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse (GMO)12 ergeben.13 In Art. 84 – 88 GMO finden sich Regelungen zu sog. fakultativen vorbehaltenen Angaben. Gemäß Art. 84 GMO wird eine Regelung für fakultative vorbehaltene Angaben nach Sektoren oder Erzeugnissen eingeführt, mit der es den Erzeugern von Agrarerzeugnissen mit wertsteigernden Merkmalen oder Eigenschaften erleichtert werden soll, diese Merkmale oder Eigenschaften auf dem Binnenmarkt bekanntzumachen, und mit der insbesondere spezifische Vermarktungsnormen gefördert und ergänzt werden sollen. Die Befugnis zum Erlass derartiger fakultativer Angaben kommt gemäß Art. 86 GMO der Europäischen Kommission zu. Gemäß Art. 88 Abs. 1 GMO kann eine fakultative vorbehaltene Angabe nur für die Beschreibung von Erzeugnissen verwendet werden, die mit den geltenden Verwendungsbedingungen im Einklang stehen. Mit der Verordnung (EG) Nr. 543/2008 (VO 543/2008)14 hat die Kommission im Fleischsektor im Hinblick auf Geflügelfleisch konkrete Vorgaben gemacht. Gemäß Art. 11 Abs. 1 VO 543/2008 dürfen zur Angabe der Haltungsform nur die unter Art. 11 Abs. 1 lit. a) - e)15 VO 543/2008 sowie in Anhang IV der VO 543/2008 aufgeführten Begriffe in den anderen Sprachen der Gemeinschaft verwendet werden, und dies nur, sofern die in Anhang V VO 543/2008 genannten Bedingungen erfüllt sind. Die genannten Kennzeichnungspflichten gelten gemäß Art. 11 Abs. 3 VO 543/2008 unbeschadet der einzelstaatlichen technischen Maßnahmen, die über die Mindestanforderungen gemäß Anhang V VO 543/2008 hinausgehen und nur auf die Erzeuger des betreffenden Mitgliedstaats anzuwenden sind, sofern diese Maßnahmen mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind und mit den gemeinsamen Vermarktungsnormen für Geflügelfleisch in Einklang stehen. Nach Ansicht in der Literatur dürften davon jedoch allein Verschärfungen der Haltungsbedingungen, nicht jedoch abweichende Kennzeichnungsvorgaben erfasst sein.16 Damit wäre nach dieser Ansicht die Kennzeichnung von Geflügelfleisch abschließend sekundärrechtlich erfasst.17 12 VERORDNUNG (EU) Nr. 1308/2013 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 17. Dezember 2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 922/72, (EWG) Nr. 234/79, (EG) Nr. 1037/2001 und (EG) Nr. 1234/2007 des Rates (ABl. EU L 347 vom 20.12.2013, S. 671) konsolidierte Fassung vom 29.12.2020. 13 Gundel, ZLR 2016, 750, 760. 14 VERORDNUNG (EG) Nr. 543/2008 DER KOMMISSION vom 16. Juni 2008 mit Durchführungsvorschriften zur Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 des Rates hinsichtlich der Vermarktungsnormen für Geflügelfleisch (ABl. L 157 vom 17.6.2008, S. 46) konsolidierte Fassung vom 01.07.2013; vgl. hierzu Gundel, ZLR 2016, 750, 760 f.. 15 Vgl. Art. 11 Abs. VO 543/2008: „a) „Gefüttert mit … % …“ b) „extensive Bodenhaltung“ c) „Freilandhaltung“ d) „Bäuerliche Freilandhaltung“ e) „Bäuerliche Freilandhaltung — Unbegrenzter Auslauf“.“ 16 Gundel, ZLR 2016, 750, 760. 17 Gundel, ZLR 2016, 750, 760 f.. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 006/21 Seite 8 Weitere verbindliche Kennzeichnungspflichten zur Haltungsform hat der Europäische Gesetzgeber im Hinblick auf Hühnereier eingeführt.18 2.3. Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34 AEUV Ein zwingendes nationales Tierwohllabel müsste mit der Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34 ff. AEUV vereinbar sein. 2.3.1. Eingriff Gemäß Art. 34 AEUV sind mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten verboten. Im Hinblick auf ein zwingendes Tierwohllabel kommt die Prüfung einer Maßnahme gleicher Wirkung i. S. d. Art. 34 AEUV in Betracht. Das Verbot des Art. 34 AEUV erfasst nach der Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich jede Maßnahme der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, die Einfuhren zwischen Mitgliedstaaten unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern (sog. Dassonville-Formel).19 Eine Fortführung der Dassonville-Formel nahm der EuGH in seiner sog. Cassis-de-Dijon-Entscheidung vor, in der er festhielt, dass Maßnahmen, die nicht zwischen inländischen und ausländischen Waren unterscheiden, ebenso einen Eingriff Art. 34 AEUV darstellen können.20 Dies wäre bei einem zwingenden Tierwohllabel der Fall, sofern es gleichermaßen inländische wie ausländische Waren betrifft. Kennzeichnungspflichten unterfallen nach der Rechtsprechung des EuGH dem Verbot des Art. 34 AEUV, wenn diese unterschiedslos gelten, aber Waren betreffen, die in anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht wurden.21 Eingriffe in Art. 34 AEUV können auch dann bestehen, wenn auf dem Etikett oder der Verpackung zusätzlich Angaben angebracht werden müssen, denen eine potenziell einfuhrhemmende 18 Siehe Art. 12 Abs. 2 VERORDNUNG (EG) Nr. 589/2008 DER KOMMISSION vom 23. Juni 2008 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 des Rates hinsichtlich der Vermarktungsnormen für Eier (ABl. L 163 vom 24.6.2008, S. 6), konsolidierte Fassung vom 25.11.2017. 19 Grundsätzlich EuGH, Urteil vom 11.7.1974, Rs. 8/74 (Dassonville), Slg. 1974, 838; ferner EuGH, Urteil vom 11.09.2008, Rs. C-141/07 (Kommission/Deutschland), ECLI:EU:C:2008:492, Rn. 28; siehe hierzu die Ausführungen von Leible/Streinz, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 71. EL August 2020, Art. 34 AEUV, Rn. 62. 20 EuGH, Urteil vom 20.2.1979, Rs. 120/78 (REWE-Zentral AG/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein), Slg. 1979, 650, Rn. 15; vgl. hierzu die Ausführungen von Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 34 AEUV, Rn. 43. 21 Vgl. bspw. EuGH, Urteil vom 18.10.2012, Rs. C-385/10 (Elenca Srl/Ministero dell´Interno); ECLI:EU:C:2012:634, Rn. 23 f.; dazu Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 34 AEUV, Rn. 59; ferner Müller-Graf, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 34 AEUV, Rn. 110 f.. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 006/21 Seite 9 Wirkung zukommt.22 Diese einfuhrhemmende Wirkung kann insbesondere durch Anpassungskosten für die Produkte entstehen, die dann ggf. die entsprechenden Produkte verteuern.23 Daneben können die mit den Kennzeichnungspflichten einhergehenden Informationen Kaufentscheidungen der Verbraucher beeinflussen.24 Eine Einschränkung der vorab dargestellten Rechtsprechung erfolgte durch den EuGH in der verb. Rs. C-267/91 und C-268/91 (Keck und Mithouard).25 Ein Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34 AEUV soll danach nicht vorliegen, wenn die Anwendung nationaler Bestimmungen , die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren. Die Keck-Rechtsprechung betritt Verkaufsmodalitäten, wie bspw. nationale Ladenschlussvorgaben.26 Das Tierwohllabel haftet als Bezeichnungsvorgabe jedoch dem Produkt selbst an.27 Insofern handelt sich bei einem Tierwohllabel um eine produktbezogene Vorgabe, die daher nicht in den Anwendungsbereich der Keck-Rechtsprechung des EuGH unterfällt.28 2.3.2. Rechtfertigung des Eingriffs Unterschiedslos wirkende Eingriffe in die Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34 AEUV können über Art. 36 Satz 1 AEUV hinaus aufgrund ungeschriebener Rechtfertigungsgründe gerechtfertigt sein. Nach der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Cassis-de-Dijon kommt eine Rechtfertigung unterschiedslos anwendbarer Maßnahmen aufgrund sog. zwingender Erfordernisse des Allgemeininteresses in Betracht.29 22 Vgl. bspw. EuGH, Urteil vom 20.06.1991, Rs. C-39/90 (Denkavit Futtermittel GmbH/Land Baden-Württemberg), Slg. I-3099, Rn. 17; siehe dazu Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 34 AEUV, Rn. 59 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung. 23 EuGH, Urteil vom 2.2.1994, Rs. C-315/92 (Verband Sozialer Wettbewerb e.V./Clinique Laboratories SNC u. a.), Slg. 1994, I-330, Rn. 19; Gundel, ZLR 2016, 750, 752. 24 Zu den Einzelheiten siehe Gundel, ZLR 2016, 750, 752 mit Verweis auf EuGH, Urteil vom 24.11.1982, Rs. 249/81 (Kommission/Irland), Slg. 1982, 4006. 25 Zu diesen Kriterien vgl. EuGH, Urteil vom 24.11.1993, verb. Rs. C-267/91 und C-268/91 (Keck und Mithouard), Slg. I-6126, Rn. 16; vgl. hierzu Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 34 AEUV, Rn. 47. 26 Vgl. bspw. EuGH, Urteil vom 2.6.1994, verb. Rs. C-401/92 und C-402/92 (Tankstation ´t Heukske vof u. a.), Slg. I-2227, Rn. 12 ff.; siehe hierzu auch Kingreen, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 34-36 AEUV, Rn. 171. 27 Vgl. hierzu die Ausführungen von Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 34 AEUV, Rn. 50. 28 Vgl. Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 34 AEUV, Rn. 48. 29 EuGH, Urteil vom 20.2.1979, Rs. 120/78 (REWE-Zentral-AG/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein), Becker , in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 36 AEUV, Rn. 43, differenzierend Müller-Graf, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 34 AEUV, Rn. 196 f.. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 006/21 Seite 10 2.3.2.1. Ungeschriebener Rechtsfertigungsgrund des Verbraucherschutzes In der bereits genannten Cassis-de-Dijon-Entscheidung hat der EuGH festgehalten, dass insbesondere der Verbraucherschutz ein sog. zwingendes Erfordernis des Allgemeininteresses zur Rechtfertigung eines unterschiedslos geltenden Eingriffes in die Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34 AEUV darstellen kann.30 Inhaltlich zielt der Verbraucherschutz nach der Rechtsprechung des EuGH auf die Verhinderung der Irreführung31 eines „durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbrauchers“.32 Die konkrete Zielrichtung eines zwingenden Tierwohllabels müsste daher der Verhinderung der Irreführung von Verbrauchern durch sachgerechte Information dienen, um sich auf den ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund des Verbraucherschutzes berufen zu können. Ferner muss es sich insoweit nach der Rechtsprechung des EuGH um Gründe nicht-wirtschaftlicher Art handeln .33 Wie bereits erörtert wurde, wird in der Literatur insoweit auf die hohen Anforderungen hingewiesen , nach denen besonders gravierende Gründe des Verbraucherschutzes für eine Rechtfertigung von Eingriffen in die Warenverkehrsfreiheit vorliegen müssten.34 Andere Stimmen in der Literatur verweisen ferner darauf, dass Kennzeichnungspflichten, die eine negative Wirkung entfalten können, sich nur schwerlich mit dem Verbraucherschutz rechtfertigen ließen.35 2.3.2.2. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Art. 36 Satz 2 AEUV Art. 36 Satz 2 AEUV regelt, dass Maßnahmen, die gegen die Vorgaben des Art. 34 AEUV verstoßen, dann nicht gerechtfertigt werden können, wenn sie ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung oder eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen. Hieraus folgt nach der Rechtsprechung des EuGH, dass Maßnahmen , die nach Art. 36 Satz 1 AEUV gerechtfertigt werden sollen, verhältnismäßig sein 30 EuGH, Urteil vom 20.2.1979, Rs. 120/78 (REWE-Zentral-AG/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein), Slg. 1979, 650, Rn. 8; dazu Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 36 AEUV, Rn. 45. 31 EuGH, Urteil vom 2.2.1994, Rs. C-315/92 (Verband Sozialer Wettbewerb e.V./Clinique Laboratories SNC u. a.), Slg. 1994, I-330, Rn. 15; dazu Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 36 AEUV, Rn. 45; ferner Leible/Streinz, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 71. EL August 2020, Art. 36 AEUV, Rn. 113. 32 EuGH, Urteil vom 16.7.1998, Rs. C-210/96 (Gut Springenheide GmbH u. a./Oberkreisdirektor des Kreises Steinfurt ), Slg. I-4681, Rn. 31; vgl. hierzu Kingreen, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 34-36 AEUV, Rn. 212. 33 Vgl. EuGH, Urteil vom 28.4.1998, Rs. C-120/95 (Decker/Caisse de maladie des employés privés) Slg. 1998, I-1871, Rn. 39, siehe dazu Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 36 AEUV, Rn. 49. 34 Grube, in: Voit/Grube, LMIV, 2. Auflage 2016, Art. 39 LMIV, Rn. 11 f.; Meisterernst, in: Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht , 177. EL Juli 2020, Art. 39 LMIV, Rn. 10. 35 Gundel, ZLR 2016, 750, 753. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 006/21 Seite 11 müssen.36 Dies gilt auch im Falle des Berufens auf die zwingenden Erfordernisse des Allgemeininteresses .37 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass die gegenständliche Maßnahme geeignet ist, die Erreichung des rechtmäßig verfolgten Ziels zu gewährleisten, ohne darüber hinauszugehen , was hierzu erforderlich ist.38 Für den Fall eines zwingenden Tierwohllabels würde dies im Grundsatz bedeuten, dass dieses in seiner konkreten Ausgestaltung das mildeste Mittel zur Erreichung des rechtmäßig verfolgen Ziels – der Gewährung (tierwohlorientierten) Verbraucherschutzes – darstellen muss. 2.3.2.2.1. Geeignetheit Ein zwingendes Tierwohllabel ist zunächst dann geeignet, wenn es für das Erreichen des verfolgten Rechtfertigungsgrundes – der Gewährung (tierwohlorientierten) Verbraucherschutzes – tatsächlich förderlich ist. Der EuGH legt hinsichtlich der Geeignetheit einer Maßnahme keine hohen Anforderungen an, sondern gewährt den Mitgliedstaaten bei der Einschätzung der Eignung einer Maßnahme vielmehr einen Prognosespielraum.39 Verlangt wird allerdings, dass die nationale Regelung das Ziel in kohärenter und systematischer Weise verfolgt.40 Grundsätzlich könnte ein zwingendes Tierwohllabel möglicherweise bestehende Informationsdefizite des Verbrauchers hinsichtlich der Haltungsform des verarbeiteten Nutztieres entgegenwirken . Dies kann an dieser Stelle aber nicht abschließend bewertet werden. 2.3.2.2.2. Erforderlichkeit Bejaht man die Geeignetheit eines zwingenden Tierwohllabels auf mitgliedstaatlicher Ebene, wäre in der Folge dessen Erforderlichkeit zu prüfen. Diese fehlt im Grundsatz, wenn der Zweck mit einem genauso wirksamen Mittel erreicht werden kann, der den innergemeinschaftlichen Handel weniger beschränkt.41 Nach der Rechtsprechung des EuGH gilt dies insbesondere, wenn 36 EuGH, Urteil vom 12.03.1987, Rs. 178/84 (Kommission/Deutschland), Slg. 1987, 1262, Rn. 44 ff.; siehe auch Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 36 AEUV, Rn. 50. 37 EuGH, Urteil vom 20.2.1979, Rs. 120/78 (REWE-Zentral-AG/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein), Slg. 1979, 650, Rn. 8 ff.; siehe auch Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 36 AEUV, Rn. 50. 38 EuGH, Urteil vom 13.11.1990, Rs. C-331/88 (The Queen/The Minister of Agriculture, Fisheries and Food), Slg. 1990, I-4057 Rn. 13; vgl. hierzu die Ausführungen von Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 34 AEUV, Rn. 43. 39 Vgl. EuGH, Urteil vom 15.9.1994, Rs. C-293/93 (Houtwipper), Slg. 1994, I-4262, Rn. 22; siehe dazu Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 36 AEUV, Rn. 53. 40 EuGH, Urteil vom 21.12.2011, Rs. C-28/09 (Kommission/Österreich), ECLI:EU:C:2011:854, Rn. 126, 133 ff.; vgl. auch Müller-Graf, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 36 AEUV, Rn. 129. 41 EuGH, Urteil vom 11.5.1989, Rs. 25/88 (Wurmser u. a.), Slg. 1989, 1124, Rn. 13. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 006/21 Seite 12 der Mitgliedstaat zwischen verschiedenen zur Erreichung desselben Ziels geeigneten Mitteln zur Verfügung hat.42 Zunächst stellt eine Kennzeichnungspflicht ein milderes Mittel im Vergleich zu einem Verkaufsverbot dar.43 Ob die Kennzeichnung einer bestimmten Haltungsform zur Verhinderung einer Irreführung des Verbrauchers ein zwingendes Erfordernis darstellt, kann hier nicht abschließend bewertet werden.44 Es lässt sich bereits nicht abschließend bewerten, ob insoweit ein Informationsdefizit der Verbraucher besteht. Als milderes Mittel käme möglicherweise eine freiwillige Kennzeichnung in Betracht. Dagegen wird jedoch in der Literatur argumentiert, dass diese die eigentlich beabsichtigte Wirkung der Etablierung eines Tierwohllabels nicht in ausreichendem Maße hervorrufe.45 Eine abschließende Entscheidung über die Erforderlichkeit obläge nach Einführung eines zwingenden Tierwohllabels dem EuGH. 2.3.2.2.3. Angemessenheit Letztlich müsste ein zwingendes Tierwohllabel im engeren Sinne angemessen sein. Zu prüfen wäre insoweit die konkrete Zweck-Mittel-Relation. Im Rahmen der Angemessenheitsprüfung führt der EuGH eine Güterabwägung durch, im Rahmen derer er die abstrakte Gewichtigkeit des betroffenen Schutzgutes, die Intensität der konkreten Bedrohung sowie die Besonderheiten des Falles einfließen lässt.46 Ziel dieser Abwägung ist die Feststellung, ob ein Rechtfertigungsgrund die Maßgaben des freien Warenverkehrs überwiegt.47 In der Literatur wird insoweit auch von der Herstellung einer praktischen Konkordanz zwischen der Warenverkehrsfreiheit sowie den anderen Zielen des AEUV gesprochen.48 Zu berücksichtigen wäre nach der Rechtsprechung des EuGH 42 EuGH, Urteil vom 12.03.1987, Rs. 178/84 (Kommission/Deutschland), Slg. 1987, 1262, Rn. 28. 43 Müller-Graf, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 36 AEUV, Rn. 114. 44 Der EuGH hat konkrete Grenzen der Erforderlichkeit von Kennzeichnungspflichten gemäß Art. 34 AEUV in der Entscheidung EuGH, Urteil vom 26.10.1995, Rs. C-51/94 (Kommission/Bundesrepublik Deutschland), Slg. 1995, I-3617, Rn. 37 aufgezeigt. Danach widerspräche die Verpflichtung einer zusätzlichen Angabe eines Zusatzstoffes Art. 34 AEUV, wenn dieser Zusatzstoff bereits im Verzeichnis der Zutaten aufgeführt ist. 45 Gundel, ZLR 2016, 750, 754. 46 Vgl. die Ausführungen von Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 36 AEUV, Rn. 56 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung. 47 Vgl. dazu grundlegend EuGH, Urteil vom 20.2.1979, Rs. 120/78 (Rewe-Zentral-AG, Köln/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein), Slg. 1979, 650, Rn. 14. 48 Vgl. die Ausführungen von Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 36 AEUV, Rn. 56. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 006/21 Seite 13 insoweit auch das Vorliegen von Übergangsfristen, die den betroffenen Wirtschaftsteilnehmern die Möglichkeit zur Anpassung gibt.49 Nach Ansicht in der Literatur wäre die Rechtfertigung einer verpflichtenden Regelung für alle auf dem deutschen Markt vertriebenen Produkte aus Gründen des Verbraucherschutzes denkbar, soweit diese eine sog. Gleichwertigkeitsprüfung bei geringfügigen Abweichungen vorsähe.50 Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich die geringste Kennzeichnungsstufe an nationalen Mindestanforderungen orientieren könnte, die ggf. über Mindestanforderungen der EU bzw. des Herkunftslandes hinausgehen könnten. In diesem Fall könnte es Importwaren verweigert werden, die geringste Kennzeichnungsstufe tragen zu dürfen.51 Daher müsste nach Ansicht in der Literatur zumindest eine Kennzeichnungsstufe existieren, die den unionsrechtlichen Mindeststandard berücksichtigt.52 Die Angemessenheit eines verbindlichen Tierwohllabels hängt im Ergebnis von dessen konkreter Ausgestaltung ab. Eine abschließende Entscheidung über die Vereinbarkeit eines zwingenden Tierwohllabels mit der Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34 AEUV obliegt dann dem EuGH. 2.4. Unionsgrundrechte Neben einem Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34 AEUV könnte ein zwingendes Tierwohllabel in das Recht der unternehmerischen Freiheit gemäß Art. 16 GRCh eingreifen.53 Nach Ansicht in der Literatur kommt jedoch Art. 16 GRCh bei grenzüberschreitenden mitgliedstaatlichen Maßnahmen gegenüber Art. 34 AEUV keine eigenständige Bedeutung zu.54 Dagegen käme Art. 16 GRCH lediglich als Prüfungsmaßstab für mitgliedstaatliche Maßnahmen in Betracht, die reine Inlandsfälle betreffen und in den Anwendungsbereich der GRCh gemäß Art. 51 GRCh fallen.55 Dies sei bei zwingenden nationalen Tierwohllabeln der Fall, soweit die LMIV auf die innerstaatliche Produktion anwendbar ist.56 Die Kommission könne danach bei einer Prüfung der Vereinbarkeit nationaler Maßnahmen mit der LMIV gemäß Art. 45 LMIV keine Regelung als vertragskonform bewerten, die im Widerspruch zum Recht der unternehmerischen 49 EuGH, Urteil vom 14.12.2004, Rs. C-463/01 (Kommission/Deutschland), Slg. 2004, I-11734, Rn. 79 f.. 50 Gundel, ZLR 2016, 750, 767. 51 Gundel, ZLR 2016, 750, 767 f.. 52 Nach Gundel, ZLR 2016, 750, 768 f., wäre folgende Formulierung denkbar: „Entspricht deutschen bzw. EU-Tierschutz -Mindeststandards“ 53 Vgl. EuGH, Urteil vom 8.10.1986, Rs. 234/85 (Franz Keller), Slg. 1986, 2909, Rn. 8 ff.; Gundel, ZLR 2016, 750, 755. 54 Gundel, ZLR 2016, 750, 756. 55 Gundel, ZLR 2016, 750, 756. 56 Gundel, ZLR 2016, 750, 756. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 006/21 Seite 14 Freiheit stünde.57 Eine eigenständige Prüfung der unternehmerischen Freiheit gemäß Art. 16 GRCh sei damit nur in Bezug auf eine Ausgestaltung erforderlich, die die inländische Produktion stärker belastet als eingeführte Ware. In allen anderen Fällen würden die Wirkungen der Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34 AEUV im Gewicht die unternehmerische Freiheit überlagern und sich daher eine eigenständige Prüfung von Art. 16 GRCh erübrigen. 3. Freiwilliges nationales Tierwohllabel Ferner bittet der Auftraggeber um Prüfung der Vereinbarkeit eines freiwilligen Tierwohllabels mit dem Unionsrecht.58 Insoweit stellt sich wiederum die Frage der Vereinbarkeit mit dem unionsrechtlichen Sekundärrecht (Ziff. 3.1.) sowie mit der Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34 AEUV (Ziff. 3.2.). 3.1. Vorgaben des unionsrechtlichen Sekundärrechts Wie oben bereits ausgeführt, trifft die LMIV verpflichtende Vorgaben über die Kennzeichnung von Lebensmitteln. Darüber hinaus können verpflichtende mitgliedstaatliche Maßnahmen allein im Einklang mit den Art. 38, 39 LMIV erfolgen.59 Freiwillige mitgliedstaatliche Kennzeichnungsmöglichkeiten werden hingegen von Art. 38, 39 LMIV nicht erfasst. Im Hinblick auf das gemeinsame Marktordnungsrecht ist darauf hinzuweisen, dass durch Art. 11 VO 543/2008 sowie Art. 12 VO 589/2008 bereits sekundärrechtlich verbindliche Regelungen getroffen wurden.60 3.2. Warenverkehrsfreiheit, Art. 34 AEUV Zu betrachten ist ferner, ob ein freiwilliges Tierwohllabel einen Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34 AEUV darstellen kann. Nach der oben beschriebenen Dassonville-Formel des EuGH erfasst das Verbot des Art. 34 AEUV grundsätzlich jede Maßnahme der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, die Einfuhren zwischen Mitgliedstaaten unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern,61 wobei in Folge der Cassis-de-Dijon-Entscheidung des EuGH auch Maßnahmen, die nicht zwischen inlän- 57 Gundel, ZLR 2016, 750, 756. 58 Zu weiteren Ausgestaltungsmöglichkeiten, insbesondere bei Freiwilligkeit der Kennzeichnung von ausländischen Produkten, vgl. die Ausführungen von Gundel, ZLR 2016, 750, 761 ff.. 59 Siehe dazu ausführlich oben unter Ziff. 2.1.. 60 Siehe dazu oben unter Ziff. 2.2.. 61 Grundsätzlich EuGH, Urteil vom 11.7.1974, Rs. 8/74 (Dassonville), Slg. 1974, 838; ferner EuGH, Urteil vom 11.09.2008, Rs. C-141/07 (Kommission/Deutschland), ECLI:EU:C:2008:492, Rn. 28; siehe hierzu die Ausführungen von Leible/Streinz, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 71. EL August 2020, Art. 34 AEUV, Rn. 62. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 006/21 Seite 15 dischen und ausländischen Waren unterscheiden, einen Eingriff Art. 34 AEUV darstellen können .62 Ferner kommt nach der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Cassis-de-Dijon eine Rechtfertigung unterschiedslos anwendbarer Maßnahmen über Art. 36 AEUV hinaus aufgrund sog. zwingender Erfordernisse des Allgemeininteresses in Betracht.63 Auch bei einem freiwilligen Tierwohllabel ist an die bereits genannten Gleichwertigkeitsregelungen zu denken.64 Nach Ansicht in der Literatur sei insoweit zu berücksichtigten, dass sich die eingeführten Produkte durch die Anerkennung gleichwertiger Standards auch tatsächlich kennzeichnen lassen können.65 Eine abschließende Bewertung über die Vereinbarkeit eines freiwilligen Tierwohllabels mit der Warenverkehrsfreiheit hängt daher von dessen konkreter Ausgestaltung ab und obliegt dem EuGH. – Fachbereich Europa – 62 EuGH, Urteil vom 20.2.1979, Rs. 120/78 (REWE-Zentral-AG/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein), Slg. 1979, 650, Rn. 15; vgl. hierzu die Ausführungen von Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 34 AEUV, Rn. 43. 63 EuGH, Urteil vom 20.2.1979, Rs. 120/78 (REWE-Zentral-AG/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein), Becker , in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 36 AEUV, Rn. 43, differenzierend Müller-Graf, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 34 AEUV, Rn. 196 f.. 64 Siehe oben unter Ziff. 2.3.2.2.3.; Gundel, ZLR 2016, 750, 765. 65 Gundel, ZLR 2016, 750, 765.