© 2020 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 004/20 188 Unionsrechtlicher Rahmen für nationale Gestaltungsspielräume zur Begrenzung der Zuwanderung aus anderen Mitgliedstaaten Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 004/20 Seite 2 Unionsrechtlicher Rahmen für nationale Gestaltungsspielräume zur Begrenzung der Zuwanderung aus anderen Mitgliedstaaten Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 004/20 Abschluss der Arbeit: 12. Januar 2020 Fachbereich: Fachbereich PE 6: Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 004/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Die zu begutachtende Fragestellung 4 2. Überblick über die unionsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Aufenthalt von Unionsbürgern aus anderen Mitgliedstaaten und drittstaatsangehörigen Familienangehörigen 4 2.1. Das Freizügigkeitsrecht von Unionsbürgern – das einschlägige Unionsrecht 4 2.2. Das Aufenthaltsrecht der einzelnen Gruppen von Unionsbürgern 6 2.2.1. Aufenthaltsrecht von Arbeitnehmern und Arbeitsuchenden 6 2.2.2. Selbständige 13 2.2.3. Wirtschaftlich nicht aktive Unionsbürger 14 2.3. Zusammenfallen von wirtschaftlichem und nicht-wirtschaftlichem Aufenthaltszweck 18 2.4. Aufenthaltsrecht von drittstaatsangehörigen Familienangehörigen von Unionsbürgern 18 3. Ergebnisse 20 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 004/20 Seite 4 1. Die zu begutachtende Fragestellung Der Fachbereich ist beauftragt worden zu untersuchen, welche Möglichkeiten deutsche Städte und Kommunen, insb. vor dem Hintergrund ihrer starken Überlastung oder besonderen Strukturschwäche , haben, Zuwanderung aus EU-Mitgliedstaaten zu begrenzen. Auf der Grundlage einer Analyse des gegenüber nationalen aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen vorrangigen Aufenthaltsrechts des Unionsrechts werden nachfolgend die dazu bestehenden unionsrechtlichen Gestaltungsspielräume untersucht. 2. Überblick über die unionsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Aufenthalt von Unionsbürgern aus anderen Mitgliedstaaten und drittstaatsangehörigen Familienangehörigen 2.1. Das Freizügigkeitsrecht von Unionsbürgern – das einschlägige Unionsrecht Aufenthaltsrechte von Unionsbürgern sind Begleitrechte einer (personenbezogenen) Grundfreiheit (der Arbeitnehmerfreizügigkeit oder Niederlassungsfreiheit) oder ergeben sich aus dem (nicht die Verfolgung einer wirtschaftlichen Zielsetzung voraussetzenden) allgemeinen Freizügigkeitsrecht nach Art. 21 Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV). Diese primärrechtlich vorgegebenen Formen des Aufenthaltsrechts sind sekundärrechtlich in der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, (im Folgenden: RL 2004/38) 1 geregelt. Diese Richtlinie konkretisiert – zum Teil in Anknüpfung an die Rechtsprechung des EuGH zu den primärrechtlichen Bestimmungen – das sich aus den personenbezogenen Grundfreiheiten und der Freizügigkeit nach Art. 21 Abs. 1 AEUV ergebende Aufenthaltsrechtsregime.2 1 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten , zur Änderung […], ABl.EU 2004 Nr. L 158/77, letzte konsolidierte Fassung vom 16.6.2011. 2 Vgl. v. a. Erwägungsgründe Nr. 1 bis 4 der Richtlinie 2004/38. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 004/20 Seite 5 Die primärrechtlich gewährleisteten Unionsbürgerrechte vermitteln vor allem zwei Rechtspositionen : ein Recht auf Aufenthalt3 in anderen Mitgliedstaaten und während dieses Aufenthalts einen Anspruch auf Gleichbehandlung mit Inländern (sog. Inländergleichbehandlung). Die primär- und sekundärrechtlichen Bestimmungen zum Aufenthalt und zur Gleichbehandlung bilden zugleich den unionsrechtlichen Rahmen für den Zugang von Unionsbürgern zu sozialen Leistungen in anderen Mitgliedstaaten. Von besonderer Bedeutung ist hierbei das Zusammenspiel von Aufenthaltsrecht und Gleichbehandlungsanspruch, da ein unionsrechtlich begründeter Aufenthalt die Voraussetzung für die Geltendmachung eines unionsrechtlich vorgesehenen Gleichbehandlungsanspruchs ist. Es bestehen jedoch Unterschiede sowohl hinsichtlich der aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen der jeweiligen Unionsbürgerrechte als auch in Bezug auf die Reichweite der aus ihnen folgenden Gleichbehandlungsansprüche. Während die Arbeitnehmerfreizügigkeit als Grundfreiheit selbst ein Aufenthaltsrecht (vgl. Art. 45 Abs. 3 lit. b) u. c) AEUV) und ein Diskriminierungsverbot (vgl. Art. 45 Abs. 2 AEUV) beinhaltet,4 gewährt die allgemeine Freizügigkeit an sich zwar nur ein Bewegungs- und insbesondere ein Aufenthaltsrecht (vgl. Art. 21 Abs. 1 AEUV). Sind die Voraussetzungen dafür erfüllt, wird hierdurch aber zugleich der (sachliche) Anwendungsbereich des allgemeinen Diskriminierungsverbots aus Art. 18 Abs. 1 AEUV eröffnet, so dass der Freizügigkeitsberechtigte während seines Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat Schutz vor Diskriminierungen genießt.5 Fehlt es hingegen an den aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen, kann die betreffende Person kein Aufenthaltsrecht nach Art. 21 Abs. 1 AEUV und damit auch keinen Anspruch auf Gleichbehandlung 3 Geläufig ist in diesem Zusammenhang auch der Begriff Freizügigkeit. Allerdings liegt diesem kein einheitlicher Sprachgebrauch zugrunde, siehe dazu bereits Scheuing, EuR 2003, S. 744 (745); Stewen, Die Entwicklung des allgemeinen Freizügigkeitsrechts der Unionsbürger und seiner sozialen Begleitrechte, 2009, S. 52 f. Zum Teil werden darunter sowohl Aufenthalts- als auch Bewegungsrecht verstanden, zum Teil dagegen nur das Bewegungsrecht , vgl. vor allem Art. 45 der EU-Grundrechte-Charta sowie zu großen Teilen auch die Systematik der RL 2004/38, vgl. bspw. Art. 1 lit. a), Art. 3 Abs. 2. Unterschiede bestehen ferner bei der weitergehenden Frage, ob damit nur Art. 21 Abs. 1 AEUV, die beiden oben genannten personenbezogenen Grundfreiheiten einschließlich der Hauptrechte auf wirtschaftliche Betätigung oder alle drei und ggf. noch weitere Gewährleistungen zusammen bezeichnet werden, siehe etwa das Begriffsverständnis in der RL 2004/38 in den Erwägungsgründen Nr. 2 und 7 sowie den Abschlussbericht des Staatssekretärsausschusses vom 27.08.2014 zu Rechtsfragen und Herausforderungen bei der Inanspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme durch Angehörige der EU- Mitgliedstaaten vom 27.08.2014, abrufbar unter: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/2014/abschlussberichtarmutsmigration .pdf?__blob=publicationFile, S. 7, 44. 4 Die Arbeitnehmerfreizügigkeit und auch die Niederlassungsfreiheit beinhalten darüber hinaus noch ein unterschiedslose Maßnahmen erfassendes Beschränkungsverbot, vgl. Koenig/Haratsch/Pechstein, Europarecht, 11. Aufl. 2018, Rn. 954 ff., 1006 ff., jeweils mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. Das Beschränkungsverbot spielt für die vorliegenden Fragen keine Rolle und wird daher im Folgenden nicht weiter erörtert. 5 Vgl. EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 59, mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 004/20 Seite 6 geltend machen.6 Eine systematische, verdachtsunabhängige Prüfung des Bestehens von Aufenthaltsrechten ist nach Ansicht des EuGH unzulässig.7 Besteht ein Aufenthaltsrecht, wäre es mit Blick auf das damit geltende Diskriminierungsverbot unzulässig, Aufenthaltsrechte von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten Ausländern im größeren Umfang zu beschränken als die nationale Rechtsordnung dies für Staatsangehörige des Aufenthaltsmitgliedsstaats vorsieht. Bereits in seiner Entscheidung in der Rechtssache 36/75 (Rutili) stellt der EuGH auf Grundlage der dem derzeit geltenden Unionsrecht entsprechenden Normen des EWG klar, daß Aufenthaltsverbote unter Berufung auf diesen Vorbehalt des Artikels 48 Absatz 3 nur für das gesamte Staatsgebiet ausgesprochen werden dürfen. Hinsichtlich partieller, auf bestimmte Teile des Staatsgebiets beschränkter Aufenthaltsverbote müssen dagegen die unter dem Schutz des Gemeinschaftsrechts stehenden Personen gemäß Artikel 7 des Vertrages, soweit dessen Anwendbarkeit reicht, den Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats gleichgestellt werden.8 2.2. Das Aufenthaltsrecht der einzelnen Gruppen von Unionsbürgern 2.2.1. Aufenthaltsrecht von Arbeitnehmern und Arbeitsuchenden Rechtsgrundlage und Voraussetzungen Auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 AEUV können sich Arbeitnehmer im Sinne dieser Vorschrift9 und – in reduziertem Umfang – auch Arbeitsuchende berufen,10 ohne weitere Voraussetzungen erfüllen zu müssen.11 Auch bei einer nur geringfügigen Beschäftigung kann sich das Aufenthaltsrecht eines EU- Ausländers aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 AEUV beziehungsweise seiner sekundärrechtlichen Konkretisierung in Art. 7 Abs. 1 lit. a) RL 2004/38 ergeben. Voraussetzung hierfür ist, dass die Person im Hinblick auf ihre Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer im Sinne des Art. 45 AEUV anzusehen ist. Nach ständiger Rechtsprechung ist Arbeitnehmer […] 6 Vgl. EuGH, Urt. v. 15.9.2015, Rs. C-67/14 (Alimanovic), Rn. 49; EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 69; EuGH, Urt. v. 25.2.2016, Rs. C-299/14 (García-Nieto), Rn. 38 – jeweils im Zusammenhang mit dem Zugang zu sozialen Leistungen im Aufenthaltsmitgliedstaat. 7 EuGH, Urt. v. 14.06.2014, Rs. C-308/14 (Kommission/Vereinigtes Königreich und Nordirland), Rn. 82; dazu näher Schreiber, NZS 2016, S. 848 (849). 8 EuGH, Urt. v. 28.10.1975, Rs. 36/75, Rn. 46/49. 9 Koenig/Haratsch/Pechstein, Europarecht, 11. Aufl. 2018, Rn. 931 ff., mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 10 Vgl. insbesondere EuGH, Urt. v. 23.3.2004, Rs. C-138/02 (Collins), Rn. 58 ff.; EuGH, Urt. v. 15.9.2005, Rs. C-258/04 (Ioannidis), Rn. 21 f., wonach Arbeitsuchende Gleichbehandlung nur hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung bzw. zum Arbeitsmarkt genießen, nicht aber in Bezug auf steuerliche und soziale Vergünstigung, die eine (bestehende) abhängige Beschäftigung voraussetzen. 11 Vgl. in diesem Sinne EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 75. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 004/20 Seite 7 jede Person, die eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht nach dieser Rechtsprechung darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält […].12 Damit wäre auch im Fall einer geringfügigen Beschäftigung von einer Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Art. 45 AEUV auszugehen, wenn die betreffende Erwerbstätigkeit sich nicht als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt. Wann diese Schwelle erreicht ist, dürfte wohl eine Frage des Einzelfalls sein. Abstrakte Vorgaben im Sinne eines Mindestverdienstes o. ä. lassen sich der Rechtsprechung der Unionsgerichte nicht entnehmen.13 Genügt die geringfügige Beschäftigung nicht für eine Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Art. 45 AEUV, so dass die Voraussetzungen für das entsprechende Aufenthaltsrecht nicht vorliegen , so ist zu prüfen, ob sich ein Aufenthaltsrecht nicht aus anderen Gründen ergibt. In aufenthaltsrechtlicher Sicht stellt sich im Fall des Eintretens von Arbeitslosigkeit die Frage, ob eine vorher bestehende Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Art. 45 AEUV beziehungsweise Art. 7 Abs. 1 lit. b) RL 2004/38 fortwirkt. Vorgaben hierzu finden sich in Art. 7 Abs. 3 lit. b) und c) RL 2004/38. Nach Art. 7 Abs. 3 lit. b) RL 2004/38 bleibt dem betreffenden Unionsbürger die Arbeitnehmereigenschaft zu aufenthaltsrechtlichen Zwecken auf Dauer erhalten, wenn er sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach mehr als einjähriger Beschäftigung dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung [stellt]. Er gilt dann aufenthaltsrechtlich unabhängig von der Arbeitslosigkeit als Arbeitnehmer, dem ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 1 lit. a) RL 2004/38 zusteht. Bei geringerer Beschäftigungsdauer als einem Jahr bleibt die Arbeitnehmereigenschaft zu aufenthaltsrechtlichen Zwecken nach Art. 7 Abs. 3 lit. c) RL 2004/38 nur für eine Dauer von sechs Monaten erhalten. Voraussetzung ist, dass der Unionsbürger sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf seines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrags oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung [stellt]. Bei fortbestehender Arbeitslosigkeit nach Ablauf der entsprechenden Frist entfällt somit das Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 1 RL 2004/38 als Arbeitnehmer. 12 Vgl. bspw. EuGH, Urt. v. 17.7.2008, Rs. C-94/07 (Raccanelli), Rn. 33; EuGH, Urt. v. 21.2.2013, Rs. C-46/12 (N.), Rn. 40, 42; EuGH, Urt. v. 4.6.2009, verb. Rs. C-22 u. 23/08 (Vatsouras/Koupatantze), Rn. 26. 13 Siehe hierzu Franzen, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 45 AEUV, Rn. 25 ff. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 004/20 Seite 8 Aus der unionsrechtlichen Rechtsprechung ergibt sich jedoch, dass im Fall einer anschließenden Arbeitsuche ein Aufenthaltsrecht zu diesem Zweck nach Art. 14 Abs. 4 lit. b) RL 2004/38 besteht .14 Das primärrechtlich aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 AEUV folgende Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitsuche15 verortet der Gerichtshof mittlerweile in Art. 14 Abs. 4 lit. b) RL 2004/38.16 Eine explizite Regelung zu seiner Dauer enthält die Vorschrift des Art. 14 Abs. 4 lit. b) RL 2004/38 allerdings nicht. Sie knüpft vielmehr an die ihr vorausgegangene Rechtsprechung des EuGH an und legt lediglich fest, dass Arbeitsuchende einen Schutz vor Ausweisung genießen, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und dass sie eine begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden.17 Unter Beachtung dieser Vorgabe sind die Mitgliedstaaten nach Auffassung des EuGH frei, für den Aufenthalt zur Arbeitsuche einen angemessenen Zeitraum festzulegen.18 Daneben besteht die Möglichkeit, den Aufenthalt zur Arbeitsuche für die ersten drei Monate auf Art. 6 Abs. 1 RL 2004/38 zu stützen. Danach hat jeder Unionsbürger das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates. Vorausgesetzt wird lediglich der Besitz eines gültigen Ausweisdokuments. Da die Freizügigkeitsrichtlinie hierbei keine Unterscheidung zwischen erwerbstätigen und nicht-erwerbstätigen Unionsbürgern vornimmt, sondern erst bei einem Aufenthalt von mehr als drei Monaten (vgl. Art. 7 Abs. 1 RL 2004/38), ließe sich Art. 6 Abs. 1 AEUV als einschlägige Bestimmungen für alle Aufenthaltsrechtskonstellationen im ersten Dreimonatszeitraum verstehen. Bei einem solchen Verständnis würde sie auch dem Art. 14 Abs. 4 lit. b) RL 2004/38 innerhalb der ersten drei Monate vorgehen. Der Rechtsprechung lässt sich ein solches Verhältnis für diese Konstellation weder explizit entnehmen, noch schließen es die bisher entschiedenen Fälle implizit aus.19 Erfolgt die Arbeitsuche bereits vom ersten Tag an, bestehen in materieller Hinsicht keine Unterschiede , ob man das Aufenthaltsrecht ausschließlich aus Art. 14 Abs. 4 lit. b) RL 2004/38 ableitet oder sukzessive auf beide Vorschriften stützt. 14 Vgl. EuGH, Urt. v. 15.9.2015, Rs. C-67/14 (Alimanovic), Rn. 53 ff. 15 Janda, ZRP 2019, S. 94. 16 Vgl. EuGH, Urt. v. 15.9.2015, Rs. C-67/14 (Alimanovic), Rn. 58. Kritisch hierzu aus Gründen des Wortlauts und der Systematik dieser Vorschrift GA Wathelet, Schlussanträge vom 26.7.2017 zu EuGH, Rs. C-442/16, Rn. 69 ff., der dies eher in der einschlägigen Grundfreiheit, gegebenenfalls noch in Art. 7 Abs. 3 RL 2004/38 verortet sieht. 17 Vgl. EuGH, Urt. v. 23.3.2004, Rs. C-138/02 (Collins), Rn. 37. 18 Vgl. EuGH, Urt. v. 23.3.2004, Rs. C-138/02 (Collins), Rn. 37, mit weiteren Nachweisen. 19 Der Fall EuGH, Urt. v. 15.09.2015, Rs. C-67/14 (Alimanovic) betraf Personen, die vorher schon gearbeitet hatten und sich auch im Übrigen seit längerer Zeit in Deutschland aufhielten, vgl. Rn. 27, so dass ein Rückgriff auf Art. 6 RL 2004/38 nicht in Betracht kam. In EuGH, Urt. v. 25.2.2016, Rs. C-299/14 (García-Nieto), ging es zwar um ein Aufenthaltsrecht nach Art. 6 RL 2004/38. Den Sachverhaltsdarstellungen lässt sich aber nicht entnehmen , ob die betreffenden Personen auf Arbeitsuche waren (vgl. Rn. 29 ff.). Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 004/20 Seite 9 Verlust des Aufenthaltsrechts Nachfolgend wird der Frage nachgegangen, zu welchen aufenthaltsrechtlichen Folgen die Beendigung einer Erwerbstätigkeit führt. Die Richtlinie 2004/38 unterscheidet dabei zwischen vorübergehenden und dauerhaften Phasen der Nichtausübung einer Erwerbstätigkeit: Art. 7 Abs. 3 RL 2004/38 enthält die Voraussetzungen, unter denen die Arbeitnehmereigenschaft erhalten bleibt, in Fällen vorübergehender Arbeitsunfähigkeit (lit. a), unfreiwilliger Arbeitslosigkeit (lit. b) und c)) oder Aufnahme einer (weiteren) Berufsausbildung (lit. d). Ein nicht ausdrücklich geregelter, aber in der Rechtsprechung entschiedener Fall der Aufrechterhaltung der Arbeitnehmereigenschaft betrifft den Fall der Unterbrechung aus Gründen von Schwangerschaft und Geburt.20 In Art. 17 RL 2004/38 ist hingegen das sog. Verbleiberecht geregelt, wenn der Arbeitnehmer altersgemäß aus dem Erwerbsleben ausscheidet (lit. a), vgl. auch Art. 45 Abs. 3 lit. d) AEUV) oder auf Dauer arbeitsunfähig ist (lit. b)). Nur wenn die im Einzelnen geregelten Voraussetzungen dieser Konstellationen nicht erfüllt werden , die Arbeitnehmereigenschaft also nicht fortwirkt, kommt es zu einem Verlust des aus Art. 45 AEUV folgenden Aufenthaltsrechts. Dies bedeutet jedoch nicht zwingend, dass es dann an einem unionsrechtlich begründeten Aufenthalt fehlt. Der Rechtsprechung kann entnommen werden, dass der Aufenthalt – bei Vorliegen der einschlägigen Voraussetzungen – auch auf eine andere Rechtsgrundlage gestützt werden kann.21 In Betracht kommt insbesondere das allgemeine, unabhängig von einem wirtschaftlichen Aufenthaltszweck bestehende Aufenthaltsrecht aus Art. 21 Abs. 1 AEUV.22 Möglich wäre auch, dass der betreffende Unionsbürger – etwa bei freiwilliger Arbeitslosigkeit – nach einer neuen Arbeitnehmertätigkeit sucht und dadurch das damit verknüpfte Aufenthaltsrecht begründet. Eine Ausweisung kann erst dann verfügt werden, wenn überhaupt kein unionsrechtlich begründetes Aufenthaltsrecht besteht.23 Eine allein auf den Verlust der Aufenthaltsrechtsvoraussetzung gestützte Ausweisung nach der RL 2004/38 darf jedoch nicht mit einem Einreiseverbot verbunden werden.24 20 Siehe EuGH, Urt. v. 19.07.2014, Rs. C-507/12 (Saint Prix), Rn. 47. 21 Vgl. EuGH, Urt. v. 29.04.2004, verb. Rs. C-482/01 und C-493/01 (Orfanopoulos), Rn. 52 f. 22 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 7.09.2004, Rs. C-456/02 (Trojani), Rn. 29 ff. Für ein Aufleben des Art. 21 Abs. 1 AEUV nach Verlust eines grundfreiheitlich begründeten Aufenthaltsrechts spricht auch das in der Rechtsprechung oftmals betonte Spezialitätsverhältnis der letztgenannten gegenüber dem allgemeinen Aufenthaltsrecht. Vgl. dazu etwa EuGH, Urt. v. 26.11.2002, Rs. C-100/01 (Oteiza Olazabal), Rn. 26; EuGH, Urt. v. 25.10.2012, Rs. C-367/11 (Prete), Rn. 20. 23 Vgl. Art. 14 in Verbindung mit Art. 15 Abs. 1 und 3 RL 2004/38. 24 Siehe Art. 15 Abs. 3 RL 2004/38. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 004/20 Seite 10 Beschränkung eines Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit Dessen ungeachtet und unabhängig von der jeweiligen Rechtsgrundlage kann ein bestehendes Aufenthaltsrecht aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit eingeschränkt werden25 (vgl. für die Arbeitnehmerfreizügigkeit Art. 45 Abs. 3 AEUV sowie die Konkretisierung in Art. 27 ff. RL 2004/38). Bei diesen Vorbehaltsgründen handelt es sich ebenfalls um unionsrechtlich geprägte Begriffe, die allerdings den Mitgliedstaaten Beurteilungsspielräume eröffnen. Innerhalb des unionsrechtlich vorgegebenen Rahmens für mögliche Beschränkungen können Besonderheiten in den einzelnen Mitgliedstaaten Berücksichtigung finden.26 Aufenthaltsbeschränkungen dürfen aber nicht aus wirtschaftlichen Erwägungen vorgenommen werden (Art. 27 Abs. 1 Satz 2 RL 2004/38). Darüber hinaus erfordert die Ausübung dieser Beschränkungsoption aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit neben der Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eine Einzelfallprüfung,27 nach der das persönliche Verhalten des Betroffenen eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen muss, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall gelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig (Art. 27 Abs. 2 UAbs. 2 RL 2004/38).28 Liegen die Voraussetzungen für eine Beschränkung des Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit vor, kann der Mitgliedstaat eine Ausweisung verfügen (Art. 28 RL 2004/38)29 und ein Aufenthaltsverbot sowie eine Wiedereinreisesperre verhängen (Art. 32 RL 2004/38). Im Hinblick auf den zeitlichen Umfang des Verbots enthält die RL 2004/38 zwar keine konkreten Vorgaben. Vorgesehen ist aber, dass der betroffene Unionsbürger spätestens drei Jahre nach Vollstreckung des Aufenthaltsverbots einen Aufhebungsantrag stellen kann (Art. 32 RL 2004/38). Beschränkung eines Aufenthaltsrechts im Falle von Rechtsmissbrauch und Betrug Darüber hinaus räumt die Art. 35 RL 2004/38 den Mitgliedstaaten die Möglichkeit ein, Maßnahmen zu erlassen, um gegen Rechtsmissbrauch oder Betrug (bspw. im Fall von Scheinehen) vorzugehen .30 Ausweislich des Richtlinienwortlauts geht es dabei um die Verweigerung, Aufhebung oder den Widerruf des Aufenthaltsrechts. Derartige Maßnahmen müssen verhältnismäßig sein 25 Der EuGH legt diese Begriffe restriktiv aus, vgl. Urt. v. Rs. C-348/09, Rn. 20. 26 EuGH, Urt. v. 4.10.1974, Rs. C-41/47 (Van Duyn / Home Office), Rn. 18. Vgl. dazu auch Frenz, Handbuch Europarecht , Bd. I Europäische Grundfreiheiten, Rn. 2000 f. 27 EuGH, Urt. v.28.10.1975, Rs. 86/12, S. 1223 f. 28 Siehe zu weiteren Einzelheiten die Art. 27 Abs. 3 und 4 sowie Art. 28 ff. RL 2004/38. Hierzu gehören auch Vorgaben zu Mitteilungs- und Begründungspflichten sowie zur Einhaltung bestimmter Verfahrensgarantien. 29 EuGH, Urt. V. 13.7.2017, Rs. C-193/16. 30 In Deutschland wurde von dieser Option in § 2 Abs. 7 FreizügG/EU Gebrauch gemacht. Danach kann das Nichtbestehen des Aufenthaltsrechts festgestellt werden, wenn feststeht, dass die betreffende Person das Vorliegen einer Voraussetzung für dieses Recht durch die Verwendung von gefälschten oder verfälschten Dokumenten oder durch Vorspiegelung falscher Tatsachen vorgetäuscht hat. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 004/20 Seite 11 und unterliegen darüber hinaus den gleichen Verfahrensgarantien wie Einschränkungen aus Gründen der öffentlichen Sicherheit, Ordnung und Gesundheit.31 Verlust des Aufenthaltsrechts von Arbeitsuchenden Der Verlust des auf Grund der Arbeitsuche bestehenden Aufenthaltsrechts ist untrennbar mit dessen Dauer verbunden. Hierzu hat der Gerichtshof in den ersten einschlägigen Entscheidungen aus den 1990iger Jahren festgestellt, dass das Unionsrecht die Dauer des Aufenthaltsrechts nicht regle.32 Daran hat sich bisher – auch mit der RL 2004/38 – nichts geändert. Es liegt daher weiter in der Verantwortung der Mitgliedstaaten, die Dauer dieses Aufenthalts zur Arbeitsuche festzulegen .33 Unter Hinweis auf die praktische Wirksamkeit der Arbeitnehmerfreizügigkeit fordert der EuGH in ständiger Rechtsprechung allerdings, dass der gewährte Zeitraum angemessen sein muss.34 Ausgehend von diesem Maßstab ließ der Gerichtshof etwa ein sechsmonatiges Aufenthaltsrecht genügen.35 Offen ist, ob auch ein kürzerer Zeitraum als angemessen angesehen werden kann.36 Dessen ungeachtet bleibt der Status als Arbeitsuchende nach neuerer Rechtsprechung bestehen, wenn die Arbeitsuche wegen der körperlichen Belastungen im Spätstadium der Schwangerschaft und nach der Geburt des Kindes unterbrochen wird.37 Nach Ablauf eines angemessenen Zeitraums darf das Aufenthaltsrecht nach der Rechtsprechung des EuGH nicht automatisch wegfallen.38 Führt der arbeitsuchende Unionsbürger den Nachweis, 31 Von dieser Gestaltungsoption macht der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften (BT-Drs. 18/2581) Gebrauch, indem er die Einführung einer Rechtsgrundlage für die Möglichkeit eines befristeten Wiedereinreiseverbots im Fall von Rechtsmissbrauch oder Betrug in Bezug auf das Freizügigkeitsrecht vorsieht. 32 Vgl. EuGH, Urt. v. 26.02.1991 Rs. C-292/89 (Antonissen), Rn. 21; EuGH, Urt. v. 20.02.1997, Rs. C-344/95 (Kommission/Belgien), Rn. 16, 17; EuGH, Urt. v. 23.03.2004, Rs. C-138/02 (Collins), Rn. 37. 33 EuGH, Urt. v. 20.02.1997, Rs. C-344/95 (Kommission/Belgien), Rn. 17; EuGH, Urt. v. 23.03.2004, Rs. C-138/02 (Collins), Rn. 37. In Deutschland ist dies bisher nicht erfolgt. Nach dem Abschlussbericht des Staatssekretärsausschusses soll das FreizügigkeitsG/EU jedoch insoweit angepasst und das Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche unter Berücksichtigung der Vorgaben des Unionsrechts künftig befristet werden (vgl. S. 10, 93). Diesen Vorschlag greift das Freizügigkeitsgesetz/EU auf. Die dort enthaltene Neufassung des § 2 Abs. 2 Nr. 1a) sieht eine Befristung des Aufenthaltsrechts von Unionsbürgern zur Arbeitsuche bis zu sechs Monaten vor. Über diesen Zeitraum hinaus sollen sie ein Recht auf Einreise und Aufenthalt zur Arbeitsuche haben, solange sie nachweisen können, dass sie mit begründeter Aussicht auf Erfolg weiterhin Arbeit suchen. 34 Vgl. EuGH, Urt. v. 26.02.1991, Rs. C-292/89 (Antonissen), Rn. 16, 21; EuGH, Urt. v. 20.02.1997, Rs. C-344/95 (Kommission/Belgien), Rn. 16, 17; EuGH, Urt. v. 23.03.2004, Rs. C-138/02 (Collins), Rn. 37. 35 Vgl. EuGH, Urt. v. 26.02.1991, Rs. C-292/89 (Antonissen), Rn. 21. 36 In EuGH, Urt. v. 20.02.1997, Rs. C-344/95 (Kommission/Belgien), Rn. 12, stand ein dreimonatiges Aufenthaltsrecht in Frage. Der Gerichtshof nahm zur Angemessenheit eines solchen Zeitraums jedoch nicht Stellung, sondern lehnte die nationale Regelung aus anderen Gründen ab (vgl. Rn. 18 sowie die weiteren Ausführungen im Text). 37 EuGH, Urt. v. 19.06.2014, Rs. C-507/12 (Saint Prix), Rn. 47; Urt. v. 15.09.2015, Rs. C-67/14 (Alimanovic), Rn. 57. 38 Vgl. EuGH, Urt. v. 20.02.1997, Rs. C-344/95 (Kommission/Belgien), Rn. 18; EuGH, Urt. v. 23.03.2004, Rs. C-138/02 (Collins), Rn. 37. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 004/20 Seite 12 dass er weiterhin und mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit sucht, darf er vom Aufnahmemitgliedstaat nicht ausgewiesen werden.39 Diese Rechtsprechungsvorgabe wurde nahezu wortgleich in die RL 2004/38 in einer Regelung zur Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts übernommen .40 Demgemäß stellte der EuGH in der Rechtssache Alimanovic fest, dass ein Unionsbürger , der in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaates eingereist ist, um Arbeit zu suchen, nicht ausgewiesen werden darf, solange er auch weisen kann, dass er weiterhin Arbeit sucht und eine begründete Aussicht hat, eingestellt zu werden.41 Erläuterungsbedürftig sind in diesem Zusammenhang drei Aspekte: Erstens stellt sich die Frage, unter welchen Umständen angenommen werden kann, dass mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit gesucht wird. Hierzu finden sich weder in der Rechtsprechung noch in der RL 2004/38 weitergehende Konkretisierungen. Diese vorzunehmen ist somit Aufgabe der Mitgliedstaaten, die diese Vorgabe letztlich auch im Einzelfall anzuwenden haben.42 Allerdings ist davon auszugehen, dass die Mitgliedstaaten insoweit ebenfalls nicht gänzlich frei sein werden, sondern unionsrechtliche Grenzen zu beachten haben, die jedenfalls entlang der praktischen Wirksamkeit des Art. 45 AEUV verlaufen werden. Zweitens ist festzuhalten, dass den arbeitsuchenden Unionsbürgern nach Ablauf des angemessenen Zeitraums eine Nachweispflicht trifft. Die betreffende Person ist gegenüber den zuständigen Behörden des Aufenthaltsstaates im Hinblick auf die Umstände und die Erfolgsaussichten ihrer Arbeitsuche darlegungspflichtig, um weiterhin in den Genuss des Aufenthaltsrechts zu kommen. Für den Zeitraum vor Ablauf des angemessenen Zeitraums trifft demgemäß Unionsbürger eine solche Nachweispflicht nicht. Zu den Möglichkeiten der zuständigen Behörden, sich der Ernsthaftigkeit der Arbeitsuche oder ihrer objektiven Erfolgsmöglichkeit (siehe oben) in diesem Zeitraum zu versichern, enthält die RL 2004/38 eine Konkretisierung. Danach können die Mitgliedstaaten die Voraussetzungen des Aufenthaltsrechts dann prüfen, wenn an deren Vorliegen begründete Zweifel bestehen, wobei die Prüfung nicht systematisch durchgeführt werden darf.43 Der dritte Aspekt betrifft die Rechtsfolge nach Feststellung des Verlusts des Aufenthaltsrechts zur Arbeitsuche. Die RL 2004/38 spricht für das Bestehen einer Ausweisungsoption.44 Da eine unionsrechtliche Pflicht zur Ausweisung nicht besteht, dürfte eine solche Maßnahme jedoch nicht 39 EuGH, Urt. v. 26.02.1991, Rs. C-292/89 (Antonissen), Rn. 21; EuGH, Urt. v. 20.02.1997, Rs. C-344/95 (Kommission/Belgien), Rn. 17; EuGH, Urt. v. 23.03.2004, Rs. C-138/02 (Collins), Rn. 37. 40 Siehe Art. 14 Abs. 4 lit. b) RL 2004/38. 41 EuGH, Urt. v. 15.09.2015, Rs. C-67/14 (Alimanovic), Rn. 56. 42 In Deutschland findet sich eine Konkretisierung in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift (AVV) zum Freizügigkeits G/EU unter Punkt 2.2.1.3. Siehe dazu auch Raschka, EUR 2013, 116 (123). Die AVV ist abrufbar unter http://www.verwaltungsvorschriften-im-internet.de/bsvwvbund_26102009_MI19371156524.htm (letztmaliger Abruf am 12.02.20). 43 Siehe Art. 14 Abs. 2 UAbs. 2 RL 2004/38. 44 Siehe Art. 15 Abs. 1 und insbesondere Abs. 3 RL 2004/38. Aus dem Zusammenspiel dieser Vorschrift mit Art. 14 RL 2004/38, der die Voraussetzungen regelt, nach denen das Aufenthaltsrecht aufrechterhalten wird, wird deutlich, dass bei fehlender Aufrechterhaltung zumindest auch eine Ausweisung verhängt werden kann. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 004/20 Seite 13 ohne Weiteres ergriffen werden. Bei Wegfall des spezielleren, grundfreiheitlich verbürgten Aufenthaltsrechts dürfte das allgemeine Aufenthaltsrecht nach Art. 21 Abs. 1 AEUV bestehen, soweit die Voraussetzungen hierfür erfüllt sind (siehe dazu unten). Dessen ungeachtet legt die RL 2004/38 fest, dass eine Ausweisung nach Wegfall der Voraussetzungen unionsrechtlicher Aufenthaltsrechte nicht mit einem Einreiseverbot einhergehen darf.45 Ein bestehendes Aufenthaltsrecht zwecks Arbeitsuche kann schließlich – wie auch bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit – aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit eingeschränkt werden durch Ausweisung und ggf. Aufenthaltsverbot.46 2.2.2. Selbständige Selbständig erwerbstätige Unionsbürger genießen nach Art. 49 AEUV das Recht der freien Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat. Dieses umfasst nach dem Wortlaut des Art. 49 Abs. 2 AEUV die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen. Ebenso wie bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit gewährt auch die Niederlassungsfreiheit ein Recht zum Aufenthalt als notwendiges Begleitrecht der wirtschaftlichen Betätigung.47 Mit Ausnahme des sogleich darzustellenden Begriffs der Niederlassung gleichen sich beide Aufenthaltsrechtsregime 48, so dass im Übrigen auf die obigen Ausführungen zum Aufenthaltsrecht der Arbeitnehmer verwiesen werden kann. Unter einer Niederlassung im Sinne des Art. 49 AEUV versteht man die tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat auf unbestimmte Zeit.49 Geschützt ist die stabile und kontinuierliche Teilnahme am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaates und der daraus gezogene Nutzen.50 Kennzeichnend für die Niederlassungsfreiheit und zugleich Unterscheidungsmerkmal zur Arbeitnehmerfreizügigkeit ist die Selbständigkeit. Anhaltspunkte für deren Vorliegen sind nach der Rechtsprechung des EuGH die Beteiligung an Gewinn und Verlust, die freie Bestimmung der Arbeitszeit, die Weisungsfreiheit und die Auswahl der Mitarbeiter.51 45 Siehe Art. 15 Abs. 3 RL 2004/38. 46 Dazu bereits oben unter 3.1.2. 47 Siehe etwa EuGH, Urt. v. 7.07.1992, Rs. C-370/90 (Singh), Rn. 17. 48 Vgl. EuGH, Urt. v. 27.06.1996, Rs. C-107/94 (Asscher), Rn. 29. Siehe auch die parallele Regelung in Art. 7 Abs. 1 lit. a), Abs. 3, Art. 14 Abs. 4 lit. a) RL 2004/38. 49 EuGH, Urt. v. 11.12.2007, Rs. C-438/05 (International Transport Workers' Federation und Finnish Seamen's Union), Rn. 70; EuGH, Urt. v. 15.02.1996, Rs. C-107/94 (Factortame), Rn. 20. 50 EuGH, Urt. v. 19.07.2012, Rs. C-48/11 (A), Rn. 23; EuGH, Urt. v. 30.11.1995, Rs. C-55/94 (Gebhard), Rn. 25. 51 EuGH, Urt. v. 14.12.1989, Rs. 3/87 (The Queen/Ministry of Agriculture), Rn. 35 ff. Vgl. auch Nr. 2.2.2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Freizügigkeitsgesetz/EU. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 004/20 Seite 14 Anders als bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit spielten in der bisherigen Rechtsprechung zur Niederlassungsfreiheit Fragen des Umfangs und der Dauer der selbständigen Tätigkeit sowie die Höhe des dabei erzielten Gewinns keine Rolle. Soweit ersichtlich, hat der EuGH insbesondere noch nicht entschieden, ob die Erzielung von existenzsicherndem Erwerbseinkommen für den europarechtlichen Begriff der selbständigen Erwerbstätigkeit prägend ist. Es spricht einiges dafür, dass insoweit der gleiche Maßstab anzulegen ist wie für den Begriff des Arbeitnehmers, insb. die Höhe des Einkommens für den Status des Selbständigen allein nicht ausschlaggebend ist.52 Im Übrigen muss es sich auch bei der selbständigen Erwerbstätigkeit – wie bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit – um eine tatsächliche und echte (wirtschaftliche) Tätigkeit handeln.53 Nach Art. 7 Abs. 3 lit. b) Art. 2004/38 gilt die Eigenschaft der Selbständigkeit unter den gleichen Voraussetzungen fort wie bei Arbeitnehmern.54 2.2.3. Wirtschaftlich nicht aktive Unionsbürger Wirtschaftlich nicht aktive Unionbürger genießen kein grundfreiheitlich verbürgtes Freizügigkeitsrecht . Sie können das allgemeine Freizügigkeitsrecht nach Art. 21 Abs. 1 AEUV in Anspruch nehmen. Ihr Aufenthaltsrecht unterliegt dem ausdrücklichen Vorbehalt sekundärrechtlich vorgesehener Beschränkungen und Bedingungen.55 Von dieser Ausgestaltungskompetenz hat der Unionsgesetzgeber zuletzt in der RL 2004/38 Gebrauch gemacht.56 Das Aufenthaltsrecht dieser Personengruppe bestimmt sich maßgebend nach der Aufenthaltsdauer im Gastland. Aufenthalt während der ersten drei Monate Für die ersten drei Monate besteht ungeachtet einer Erwerbsabsicht oder sonstiger materieller Voraussetzungen wie dem ausreichender Existenzmittel ein voraussetzungsloses Aufenthaltsrecht nach Art. 6 RL 2004/38. Dieses Aufenthaltsrecht steht den betreffenden Personen nach 52 Siehe allgemein zum grundsätzlichen Gleichlauf der Gewährleistungsgehalte beider Grundfreiheiten, EuGH, Urt. v. 27.06.1996, Rs. C-107/94 (Asscher), Rn. 29. So auch Raschka, Freizügigkeit von Unionsbürgern und Zugang zu sozialen Leistungen, EuR 2013, S. 116 (120); Frings, Sozialrecht für Zuwanderer, 2008, S. 54. 53 Vgl. Schlussanträge des GA Philippe Léger zu EuGH v. 2.05.2006, Rs. C-196/04 (Cadbury Schweppes), Rn. 42. Vgl. auch den Abschlussbericht des Staatssekretärsausschusses, S. 47, in dem darauf verwiesen wird, dass die bloße Anmeldung eines Scheingewerbes und die Vorlage eines Gewerbescheines noch nicht den Status des Selbständigen begründeten. 54 Vgl. dazu EuGH, Urt. v. 20.12.2017, Rs. C-442/16 (Gusa/Irland). 55 Siehe dazu auch EuGH Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Urt. v. 19.11.2013, Rs. C-140/12 (Brey), Rn. 46. Unter die im Vertragswortlaut ebenfalls in Bezug genommenen primärrechtlichen Beschränkungen und Bedingungen fallen in erster Linie die auch für alle grundfreiheitlichen Aufenthaltsrechte geltenden Einschränkungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit. Siehe dazu oben unter 3.1.2. 56 Siehe zur vorhergehenden (Sekundär-)Rechtslage, nach der das Aufenthaltsrecht wirtschaftlich nicht aktiver Unionsbürger in drei verschiedenen Richtlinien geregelt war, Scheuing, EUR 2003, S. 774 (755 f., 766 f.). Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 004/20 Seite 15 Art. 14 Abs. 1 RL 2004/38 zu, solange sie [in diesem Zeitraum] Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaates nicht unangemessen in Anspruch nehmen.57 Inwieweit aus dieser Voraussetzung in tatsächlicher Hinsicht eine eventuelle Einschränkung des dreimonatigen Aufenthaltsrechts folgen kann, ist insbesondere aus zwei Gründen fraglich. Der erste ergibt sich aus Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38, wonach die Mitgliedstaaten zu einer Gewährung von Sozialhilfe und damit von Leistungen nach SGB II und SGB XII an nicht-erwerbstätige Personen während der ersten drei Monate ihres Aufenthalts nicht verpflichtet sind. Macht der betreffende Mitgliedstaat – wie etwa Deutschland in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II und § 23 Abs. 3 Nr. 1 Var. 2 SGB XII – hiervon Gebrauch, so kommt der betreffende Unionsbürger von Gesetzes wegen gar nicht erst in den Genuss entsprechender Leistungen. Die Gefahr einer unangemessenen Inanspruchnahme dürfte somit nicht entstehen. Werden hiervon im Einzelfall Ausnahmen gemacht und Leistungen aufgrund der besonderen Situation der betreffenden Personen dennoch gewährt, so stellt sich zwar die Frage einer unangemessenen Inanspruchnahme nach Art. 14 Abs. 1 RL 2004/38 und damit nach dem Fortfall des Aufenthaltsrechts nach Art. 6 RL 2004/38. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist die Unangemessenheit jedoch im Lichte der Gesamtbelastung des jeweiligen sozialen Systems zu bestimmen : Was zudem die individuelle Prüfung angeht, mit der eine umfassende Beurteilung der Frage vorgenommen werden soll, welche Belastung die Gewährung einer Leistung konkret für das gesamte im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Sozialhilfesystem darstellen würde, ist festzustellen, dass die einem einzigen Antragsteller gewährte Hilfe schwerlich als unangemessene Inanspruchnahme eines Mitgliedstaats im Sinne von Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 eingestuft werden kann; eine solche Inanspruchnahme kann nämlich den betreffenden Mitgliedstaat nicht infolge eines einzelnen Antrags, sondern nur nach Aufsummierung sämtlicher bei ihm gestellten Einzelanträge belasten.58 Danach dürfte eine unangemessene Inanspruchnahme von Sozialleistungen des Aufenthaltsstaates nur im Ausnahmefall nachzuweisen sein. Vor diesem Hintergrund dürfte die Regelung des Art. 14 Abs. 1 RL 2004/38 faktisch leerlaufen, eine mitgliedstaatliche Einschränkung des Aufenthaltsrechts nach Art. 6 RL 2004/38 für die ersten drei Monate unter Anwendung dieser Vorschrift de facto nicht möglich sein. Da die Mitgliedstaaten in diesem Zeitraum nach Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 jedoch nicht verpflichtet sind, Sozialhilfe zu gewähren, folgen daraus für die Mitglied- 57 Vgl. hierzu auch EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 70; EuGH, Urt. v. 25.2.2016, Rs. C-299/14 (García-Nieto), Rn. 42. 58 EuGH, Urt. v. 25.2.2016, Rs. C-299/14 (García-Nieto), Rn. 50 (Hervorhebung durch Verfasser). Siehe auch EuGH, Urt. v. 15.9.2015, Rs. C-67/14 (Alimanovic), Rn. 62. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 004/20 Seite 16 staaten keine sich aus dem Diskriminierungsverbot ergebenden sozialrechtlichen Anspruchslagen .59 Aufenthalt von mehr als drei Monaten Für den anschließenden Zeitraum bis zum Vorliegen eines eventuellen Daueraufenthaltsrechts nach Art. 16 ff. RL 2004/38 setzt das primärrechtlich aus Art. 21 Abs. 1 AEUV folgende Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 1 lit. b) RL 2004/38 unter anderem das Vorliegen ausreichender Existenzmittel voraus.60 In diesem Zusammenhang hat der EuGH mit Blick auf das zwischen erwerbstätigen und nicht-erwerbstätigen Unionsbürgern differenzierende Rechtsregime der Freizügigkeitsrichtlinie ausgeführt, dass ein Mitgliedstaat daher gemäß Art. 7 der Richtlinie 2004/38 die Möglichkeit haben [muss], nicht erwerbstätigen Unionsbürgern, die von ihrer Freizügigkeit allein mit dem Ziel Gebrauch machen, in den Genuss der Sozialhilfe eines anderen Mitgliedstaats zu kommen, obwohl sie nicht über ausreichende Existenzmittel für die Beanspruchung eines Aufenthaltsrechts verfügen, Sozialleistungen zu versagen.61 Hieraus schließt der Gerichthof, dass die Mitgliedstaaten bei der Beurteilung, ob die Voraussetzung ausreichender Existenzmittel im Sinne des Art. 7 Abs. 1 lit. b) RL 2004/38 erfüllt ist, eine konkrete Prüfung der wirtschaftlichen Situation jedes Betroffenen vorzunehmen [haben], ohne die beantragten Sozialleistungen zu berücksichtigen.62 Der bisherigen Rechtsprechung lässt sich nicht klar entnehmen, ob auch in diesem Zusammenhang eine unangemessene Inanspruchnahme von Sozialleistungen als Prüfungspunkt von Bedeutung ist. Anders als im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 RL 2004/38 findet sich diese Formulierung jedenfalls weder im Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 lit. b) RL 2004/38 noch des Art. 14 Abs. 2 RL 2004/38. Die erstgenannte Vorschrift stellt insoweit lediglich darauf ab, dass der Unionsbürger über ausreichende Existenzmittel zu verfügen hat, so dass [er] während [seines] Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen […] in Anspruch nehmen [muss]. Und nach Art. 14 Abs. 2 RL 2004/38 steht Unionsbürgern das Aufenthaltsrecht nach Art. 7 RL 2004/38 zu, solange die dort genannten Voraussetzungen vorliegen. Dessen ungeachtet kann die Entscheidung in der Rechtssache Brey aus dem Jahre 2013 dahingehend verstanden werden, dass es auch im Rahmen der Prüfung eines Aufenthaltsrechts nach Art. 7 Abs. 1 lit. b) RL 2004/38 darauf ankommt, ob der betreffende Unionsbürger Sozialhilfeleistungen unangemessen in Anspruch genommen hat.63 59 Vgl. hierzu EuGH, Urt. v. 25.2.2016, Rs. C-299/14 (García-Nieto), Rn. 45, wonach es legitim sei, dass dem Aufenthaltsmitgliedstaat in dem Zeitraum der ersten drei Monate eines Aufenthalts nicht auferlegt wird, für die betreffenden Unionsbürger aus anderen Mitgliedstaaten die Kosten zu tragen, weil das Aufenthaltsrecht für diesen Zeitraum eben voraussetzungslos besteht. 60 Vgl. dazu insbesondere EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 73. 61 EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 78, siehe auch Rn. 73 ff. 62 EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 80. 63 Vgl. EuGH, Urt. v. 19.9.2013, Rs. C-140/12 (Brey), Rn. 63 ff., siehe insb. Rn. 72, 79. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 004/20 Seite 17 In der Rechtssache Dano, in der es ebenfalls um das Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 1 lit. b) RL 2004/38 ging, findet sich diese Anforderungen hingegen nicht, was allerdings auch den Umständen des Ausgangsverfahrens und den Vorgaben des vorlegenden Gerichts geschuldet sein könnte .64 Die nachfolgenden Urteile deuten – wenngleich ihnen andere Aufenthaltsrechte als die nach Art. 7 Abs. 1 lit. b) RL 2004/38 zugrunde lagen – eher darauf hin, dass die Unangemessenheitsprüfung auf Art. 14 Abs. 1 RL 2004/38 und damit auf das dreimonatige Aufenthaltsrecht nach Art. 6 Abs. 1 RL 2004/38 beschränkt ist.65 Hier bleibt die weitere Rechtsprechung abzuwarten. Zu beachten ist im Übrigen Art. 8 Abs. 4 RL 2004/38, der gewisse Vorgaben zur Bestimmung ausreichender Existenzmittel enthält. Danach dürfen die Mitgliedstaaten unter anderem keinen festen Betrag für die Existenzmittel festlegen, sondern müssen die persönliche Situation des Betroffenen berücksichtigen. Fällt die entsprechende Prüfung der Voraussetzungen nach Art. 7 Abs. 1 lit. b) RL 2004/38 im Ergebnis negativ aus, so kann der Unionsbürger kein Aufenthaltsrecht im Sinne des Art. 7 Abs. 1 lit. b) RL 2004/38 geltend machen,66 so dass auch das Gleichbehandlungsgebot in Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38 keine Anwendung findet. Gleiches gilt in diesen Fällen nach der Rechtsprechung für das Diskriminierungsverbot in Art. 4 VO 883/2004. Dem betreffenden Unionsbürger steht in einer solchen Situation somit kein Anspruch auf Gleichbehandlung beim Zugang zu Leistungen nach SGB II oder SGB XII zu. Daueraufenthaltsrecht Neben den aus Art. 21 AEUV sowie den personenbezogenen Grundfreiheiten folgenden Aufenthaltsrechten sieht die Freizügigkeitsrichtlinie noch ein weiteres Aufenthaltsrecht vor, das sogenannte Recht auf Daueraufenthalt, welches in einem gesonderten Kapitel dieses Rechtsaktes geregelt wurde (Kap. IV, Art. 16 bis 21 RL 2004/38). Es steht nach Art. 16 Abs. 1 S. 1 RL 2004/38 jedem Unionsbürger zu, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat. Die gegebenenfalls für andere Aufenthaltsrechte vorgesehenen Voraussetzungen , etwa der Nachweis ausreichender Existenzmittel, gelten für diese Rechtsposition nicht, vgl. Art. 16 Abs. 1 S. 2 RL 2004/38. Wurde dieses Recht erworben, führt nach Art. 16 Abs. 4 RL 2004/38 nur eine mehr als zweijährige Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat zu seinem Verlust. 64 Siehe EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 39, 66, 80 f. 65 Vgl. EuGH, Urt. v. 15.9.2015, Rs. C-67/14 (Alimanovic), Rn. 62; EuGH, Urt. v. 25.2.2016, Rs. C-299/14 (García- Nieto), Rn. 50. 66 Vgl. hierzu EuGH, Urt. v. 11.11.2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 81 sowie Rn. 35 ff. in Bezug auf die diesem Fall zugrunde liegenden Feststellungen der tatsächlichen Umstände durch das vorlegende Gericht. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 004/20 Seite 18 2.3. Zusammenfallen von wirtschaftlichem und nicht-wirtschaftlichem Aufenthaltszweck Weder in den Verträgen noch in der Richtlinie 2004/38 ist ausdrücklich geregelt, in welchem Verhältnis die grundfreiheitsbezogenen wirtschaftlichen Aufenthaltsrechte zu dem auf Art. 21 Abs. 1 AEUV gründenden Aufenthaltsrecht wirtschaftlich nicht aktiver Unionsbürger stehen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die erstgenannten gegenüber dem letztgenannten spezieller und gehen – soweit die Entstehungsvoraussetzungen vorliegen – dem allgemeinen Aufenthaltsrecht aus Art. 21 Abs. 1 AEUV vor.67 Dies gilt auch dann, wenn der Unionsbürger hauptsächlich einen nicht-wirtschaftlichen Aufenthaltszweck , wie etwa die Absolvierung eines Hochschulstudiums, verfolgt und (nur) nebenbei einer den Kriterien des Art. 45 AEUV genügenden abhängigen Beschäftigung nachgeht.68 2.4. Aufenthaltsrecht von drittstaatsangehörigen Familienangehörigen von Unionsbürgern Die Vorschriften des Unionsrechts über die Unionsbürgerschaft verleihen Drittstaatsangehörigen keine eigenen Rechte. Freizügigkeitsrechte dieser Personengruppe können sich allerdings daraus ableiten, dass ein Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat. Der Zweck und die Rechtfertigung dieser abgeleiteten Rechte, insbesondere der Einreise- und Aufenthaltsrechte der Familienangehörigen eines Unionsbürgers, beruhen auf der Feststellung, dass ihre Nichtanerkennung den Unionsbürger in seiner Freizügigkeit beeinträchtigen könnte, weil ihn dies davon abhalten könnte, von seinem Recht Gebrauch zu machen, in den Aufnahmemitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten […].69 Nach der Rechtsprechung des EuGH leitet sich demgemäß das Aufenthaltsrecht des Ehegatten eines Unionsbürgers im Grundsatz aus dem des mit ihm verheirateten Unionsbürgers ab, soweit dieser ihn begleitet oder nachzieht.70 Der Gerichtshof stellt dabei nicht auf die Verpflichtung der Eheleute ab, unter demselben Dach zusammenzuwohnen, sondern lässt hierfür genügen, dass beide in demselben Mitgliedstaat bleiben , in dem der Ehegatte, der Unionsbürger ist, von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht. Ein drittstaatsangehöriger Ehegatte eines Unionsbürgers kann sich auf das in der RL 2004/38/EG vorgesehene Aufenthaltsrecht nur in dem Aufnahmemitgliedstaat berufen, in dem der Unionsbürger wohnt.71 Der EuGH geht zudem davon aus, dass ein Ehegatte mit Aufhebung 67 Vgl. EuGH, Urt. v. 26.11.2002, Rs. C-100/01 (Oteiza Olazabal), Rn. 26; EuGH, Urt. v. 25.10.2012, Rs. C-367/11 (Prete), Rn. 20. 68 EuGH, Urt. v. 21.02.2013, Rs. C-46/12 (L. N.), Rn. 29, 46 f., 51. 69 EuGH, Urt. v. 10.10.2013, Rs. C-86/122 (Alopka), Rn. 22. Vgl. zuvor bereits EuGH, Urt. v. 8.11.2012, Rs. C-40/11 (Iida), Rn. 67 f. und EuGH, Urt. v. 8.5.2013, Rs. C-87/12 (Ymeraga), Rn. 35. 70 EuGH, Urt. v. 8.11.2012, Rs. C-40/11. 71 EuGH, Urt. v. 16.7.2015, Rs. C-218/14. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 004/20 Seite 19 der ehelichen Lebensgemeinschaft nicht die Eigenschaft als Ehegatte eines Unionsbürgers, der diesen begleitet oder ihm in den Aufnahmemitgliedstaat nachzieht, verliert.72 Verlässt ein Unionsbürger den Aufnahmemitgliedstaat und lässt er sich in einem anderen Mitgliedstaat oder in einem Drittland nieder, entfällt damit aber automatisch das abgeleitete Recht seines drittstaatsangehörigen Ehegatten auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat.73 Wird die Ehe nach einem Wegzug geschieden, kann der drittstaatsangehörige Ehegatte bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen allerdings ein (eigenständiges) Aufenthaltsrecht nach Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 lit. a) RL 2004/38/EG erlangen, wenn der Mitgliedstaat, in dem er sich aufhält, bei Einleitung des gerichtlichen Scheidungsverfahrens für den Unionsbürger Aufnahmemitgliedstaat i.S.v. Art. 2 Nr. 3 RL 2004/38/EG ist.74 Nach ständiger Rechtsprechung75 sind die Kinder von EU-Ausländern, die im Aufenthaltsmitgliedstaat erwerbstätig sind oder dort eine Erwerbstätigkeit ausgeübt haben, dort aufenthaltsberechtigt .76 Dieses aus Art. 10 VO 492/201177 (und zuvor aus Art. 12 VO 1612/68)78 originär folgende Aufenthaltsrecht soll nach Ansicht des EuGH eigenständige Geltung gegenüber unionsrechtlichen Regelungen beanspruchen, die den Aufenthalt von Unionsbürgern in einem anderen Mitgliedstaat regeln.79 Ein Aufenthaltsrecht steht auf Grundlage des Art. 10 VO 492/2011 auch einem Elternteil zu, der die elterliche Sorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt.80 Dieses elterliche Aufenthaltsrecht besteht wie das ihrer Kinder unabhängig davon, ob dafür auch die Voraussetzungen der Freizügigkeitsrichtlinie erfüllt sind. Dieses gegenüber dieser Richtlinie eigenständige Aufenthaltsrecht aus Art. 10 VO 492/2011 ist deshalb auch nicht davon abhängig, dass die Eltern über ausreichende Existenzmittel und einen hinreichenden Krankenversicherungsschutz im Aufenthaltsmitgliedstaat verfügen.81 72 EuGH, Urt. v. 10.7.2014, Rs. C-244/13. 73 EuGH, Urt. v. 16.7.2015, Rs. C-218/14, Rn. 58. 74 EuGH, Urt. v. 16.7.2015, Rs. C-218/14, Rn. 58 ff.; zu weiteren Detailfragen vgl. BVerwG, Urt. v. 28.3.2019, 1 C 9/18. 75 EuGH, Urt. v. 23.2.2010, Rs. C-310/08, Rn. 46; Urt. v. 17.9.2002, Rs. C-413/99, Rn. 63; Urt. v. 23.2.2010, Rs. C-480/08, Rn. 70 ff.; Urt. v. 13.6.2013, Rs. C-45/12, Rn. 46; Urt. v. 6.9.2012, Rs. C-147/11 u. a., Rn. 25. 76 Dazu näher Derksen, infoalso 2016, S. 257. 77 Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union, ABl.EU 2011 Nr. L 141/1, letzte konsolidierte Fassung vom 13.05.2018. 78 Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, Abl. L 257/2; 79 EuGH, Urt. v. 23.2.2010, Rs. C-310/08, Rn. 42. 80 EuGH, Urt. v. 17.9.2002, Rs. C-413/99. 81 EuGH, Urt. v. 23.2.2010, Rs. C-310/08, Rn. 42 ff.; Urt. v. 23.2.2010, Rs. C-480/08 Rn. 53 ff.; dazu auch die Schlussanträge des Generalanwalts Melchior Wathelet vom 26.3.2015 in der Rs. C-67/14, Rn. 120, 126. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 004/20 Seite 20 3. Ergebnisse Hinsichtlich des Aufenthaltsrechts von Unionsbürgern in anderen Mitgliedstaaten sind unterschiedliche Gruppen von Unionsbürgern zu unterscheiden. Unionsbürger genießen als Arbeitnehmer einen sich aus Art. 45 AEUV ableitenden Aufenthaltsstatus , den sie im Falle der Arbeitslosigkeit bei fehlender Fortwirkung des Arbeitnehmerstatus verlieren. Als Arbeitsuchende haben sie ein Aufenthaltsrecht, solange sie nachweisen können, dass sie mit begründeter Aussicht auf Einstellung Arbeit suchen. Für die noch wenig geklärten (grundfreiheitlich verbürgten) Aufenthaltsrechte von Selbständigen dürfte das zu Arbeitnehmern Ausgeführte entsprechend gelten. Das Aufenthaltsrecht von wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürgern bestimmt sich maßgebend nach der Aufenthaltsdauer dieser Personengruppe. Diese haben in den ersten drei Monaten des Aufenthalts ein Aufenthaltsrecht, solange sie in diesem Zeitraum Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaates nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Für den anschließenden Zeitraum bis zum Vorliegen eines eventuellen Daueraufenthaltsrechts setzt das Aufenthaltsrecht zudem das Vorliegen ausreichender Existenzmittel voraus. Ein Daueraufenthaltsrecht steht jedem Unionsbürger zu, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat. Ein bestehendes Aufenthaltsrecht kann in begründeten Einzelfällen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit oder im Falle von Rechtsmissbrauch und Betrug beschränkt werden. Soweit Aufenthaltsverbote unionsrechtlich zulässig sind, dürfen diese nur für das gesamte Staatsgebiet verhängt werden. Abweichend zu Freizügigkeitsrechten eigener Staatsangehörigen dürfen die Mitgliedstaaten keine Freizügigkeitsbeschränkungen auf bestimmte Teile des Staatsgebiets für Freizügigkeitsberechtigte vorsehen. Das Bestehen eines Aufenthaltsrechts führt zugleich zur Geltung des Diskriminierungsverbotes. Aufenthaltsberechtigte sind (sozial-)leistungsrechtlich mit staatsangehörigen Inländern gleich zu stellen. Ein Aufenthaltsrecht können drittstaatsangehörige Ehegatten und Kinder von Unionsbürgern nach den unter 2.4. dargestellten Vorgaben in Anspruch nehmen. Eine Änderung der durch Grundfreiheiten des AEUV verbürgten Aufenthaltsrechte erforderte eine Vertragsänderung durch die Mitgliedstaaten, während Änderungen der sich aus europäischem Sekundärrecht ableitenden Aufenthaltsrechte vom Unionsgesetzgeber unter Beachtung primärrechtlicher Vorgaben vorgenommen werden können. – Fachbereich Europa –