Deutscher Bundestag EU rechtliche Spielräume für eine Zugangssteuerung zu Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende aus EU-Staaten Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa PE 6 – 3000 – 1/14 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 1/14 Seite 2 EU rechtliche Spielräume für eine Zugangssteuerung zu Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende aus EU-Staaten Aktenzeichen: PE 6 – 3000 – 1/14 Abschluss der Arbeit: 6.1.2014 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Hausleitung, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 1/14 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Das Freizügigkeitsrecht und Möglichkeiten seiner Beschränkung 4 2. Europarechtliche Maßstäbe für Einschränkungen des Freizügigkeitsrechts nach der Entscheidung des EuGH vom 19. September 2013, C-140/12 5 3. Europarechtliche Maßstäbe zur Präzisierung und Begrenzung von Anspruchsvoraussetzungen und für Leistungsausschlüsse in der Grundsicherung für Arbeitsuchende mit Blick auf die Entscheidung des EuGH vom 19. September 2013 11 3.1. Zur rechtspolitischen Diskussion der Neuregelung der Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen durch Unionsbürger aus anderen Mitgliedstaaten 11 3.2. Europarechtliche Gestaltungsgrenzen zur Begrenzung und für den Ausschluss von Grundsicherungsleistungen für Unionsbürger anderer Mitgliedstaaten 11 3.2.1. Die dafür maßgebenden Zeiträume und der für diese unionsrechtlich definierte Aufenthaltsstatus von Unionsbürgern in den Aufnahmemitgliedstaaten 11 3.2.2. Europarechtliche Spielräume zur Begrenzung von Grundsicherungsleistungen für Unionsbürger aus einem anderen Mitgliedstaat mit Blick auf den Aufenthaltsstatus im Aufnahmemitgliedstaat 13 3.2.3. Zu den sich daraus ergebenden Gestaltungsmöglichkeiten für eine Zugangssteuerung zu Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende für Unionsbürger aus anderen Mitgliedstaaten 18 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 1/14 Seite 4 1. Das Freizügigkeitsrecht und Möglichkeiten seiner Beschränkung Art. 21 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und inhaltsgleich Art. 45 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GrCh) gewähren jedem Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Das Aufenthaltsrecht wird vorbehaltlich der in den übrigen Vertragsbestimmungen und den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen gewährt.1 Dieser in Art. 21 AEUV explizit normierte Vorbehalt gilt auch gemäß Art. 52 Abs. 2 GrCh für das in Art. 45 GrCh verbürgte Freizügigkeitsrecht. Bereits primärrechtlich eröffnet die Verbürgung des Freizügigkeitsrechts sowohl dem Unionsgesetzgeber als auch den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, das Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger zu beschränken.2 Die bereits primärrechtlich eröffnete Möglichkeit, die Ausübung des Freizügigkeitsrechts zu beschränken und an Bedingungen zu knüpfen, dient dazu, das Aufenthaltsrecht von Unionsbürgern von der Wahrung berechtigter Interessen der Mitgliedstaaten abhängig machen zu können.3 Das Freizügigkeitsrecht konkretisierende bzw. beschränkende Regelungen unterliegen ihrerseits der Beschränkung, nicht den Wesensgehalt des Freizügigkeitsrechts antasten zu dürfen.4 Vorbehaltlos wird hingegen nach Art. 45 AEUV die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet . Die Arbeitnehmerfreizügigkeit unterliegt einem Diskriminierungs- und Beschränkungsverbot .5 Sekundärrechtlich wird der Aufenthaltsstatus von Unionsbürgern näher in der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Richtlinie 2004/38 EG)6, ausgestaltet. Mit der Richtlinie 2004/38 EG wurde ein allgemeiner Rechtsrahmen für die Ausübung des Freizügigkeitsrechts geschaffen. Diese Richtlinie sieht insb. ein dreimonatiges Aufenthaltsrecht von Unionsbürgern vor (Art. 6 Richtlinie 2004/38 EG). Unionsbürger erwerben nach einem ununterbrochenen Aufenthalt von fünf Jahren im Aufnahmemitgliedstaat ein voraussetzungsloses Dauer- 1 EuGH, 23.10.2007, Rs. C-11/06, Slg. 2006, I-9195; Kluth, in: Calliess/Ruffert, EGV/EUV/AEUV, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta, 4. Aufl. 2011, Art. 21 Rdn. 18 2 Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 21 Rdn.15 3 Khan, in: Geiger/Khan/Kotzur, AUV/AEUV, Vertrag über die Europäische Union und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, 2010, Art. 21 Rdn.3 4 EuGH, 13.12.1979, Rs. 44/79, Slg 1979, 3727 5 Dazu näher Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 45 Rdn. 127 ff. 6 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004, über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG, ABl 158/77, online abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2004:158:0077:0123:de:PDF Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 1/14 Seite 5 aufenthaltsrecht (Art. 16 Richtlinie 2004/38 EG). Das Aufenthaltsrecht von nicht erwerbstätigen Unionsbürgern zwischen diesen Zeitspannen wird davon abhängig gemacht, ob diese über ausreichende Existenzmittel verfügen (Art. 7 Richtlinie 2004/38 EG).7 2. Europarechtliche Maßstäbe für Einschränkungen des Freizügigkeitsrechts nach der Entscheidung des EuGH vom 19. September 2013, C-140/12 Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) befasste sich in seiner Entscheidung in der Rechtssache Pensionsversicherungsanstalt gegen Peter Brey, C-140/12 vom 19. September 20138, im Rahmen eines Vorentscheidungsersuchens des Obersten Gerichtshofs (Österreich) mit der Frage, ob das Unionsrecht, insb. die Richtlinie 2004/38 EG, dahin auszulegen ist, dass es einer Regelung in einem Mitgliedstaat entgegensteht, wonach die Gewährung einer Sozialleistung an einen wirtschaftlich nicht aktiven Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats ausgeschlossen ist, wenn dieser die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt von mehr als drei Monaten im Aufenthaltsmitgliedstaat deshalb nicht erfüllt, weil ein solches Aufenthaltsrecht davon abhängt, das dieser über ausreichende Existenzmittel auch ohne Inanspruchnahme von Sozialleistungen im Aufenthaltsstaat verfügt. Der Kläger des Ausgangsverfahrens übersiedelte im Jahre 2011 zusammen mit seiner Ehefrau von Deutschland nach Österreich. Beide sind deutsche Staatsbürger und nicht mehr wirtschaftlich aktiv. Aufgrund seiner geringen (Renten-)Einkünfte und fehlenden Vermögens hatte der Kläger bei der österreichischen Pensionsversicherungsanstalt eine Ausgleichzulage beantragt, die diese mit der Begründung abgelehnt hatte, dass der Kläger nicht über ausreichende Existenzmittel verfüge , um sich rechtmäßig in Österreich aufhalten zu können. Die im Ausgangsverfahren streitbefangene Regelung in § 292 Abs. 1 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG) in seiner seit dem 1. Januar 2011 geltenden Fassung9 hat folgenden Wortlaut: „(1) Erreicht die Pension zuzüglich eines aus übrigen Einkünften des Pensionsberechtigten erwachsenden Nettoeinkommens und der gemäß § 294 zu berücksichtigenden Beträge nicht die Höhe des für ihn geltenden Richtsatzes (§ 293), so hat der Pensionsberechtigte, solange er seinen rechtmäßigen, gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, nach Maßgabe der Bestimmungen dieses Abschnittes Anspruch auf eine Ausgleichszulage zur Pension.“ 7 Dazu auch die Darstellung von Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 21 Rdn. 20 8 EuGH, 19.09.2013, C-140/12, online abrufbar unter: http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=141762&pageIndex=0&doclang=DE&mode=lst &dir=&occ=first&part=1&cid=419504 9 § 292 ASVG BGBl. I Nr. 3/2013, S. 9, online abrufbar unter http://www.sozdok.at/sozdok/dokument/dokumentanzeige.xhtml?dokid=ASVG%3DPARA%3D292%3D3%3D2 013-01-10%3D2012-06- 01&dokStat=0&csrId=217448&tlId=1385633789775&sttv=20131128&sit=20131128&ik=20120601&pub=2013011 0&rueckwAend=1 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 1/14 Seite 6 Das österreichische Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) in seiner seit 2011 geltenden Fassung10 ergänzt diese Regelung des ASVG um eine aufenthaltsrechtliche Bestimmung in § 51 NAG wie folgt: „Unionsrechtliches Aufenthaltsrecht Unionsrechtliches Aufenthaltsrecht von EWR-Bürgern für mehr als drei Monate § 51 (1) Auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie sind EWR-Bürger zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie 1. in Österreich Arbeitnehmer oder Selbständige sind; 2. für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts weder Sozialhilfeleistungen noch die Ausgleichszulage in Anspruch nehmen müssen,…“ Nach diesen Vorschriften haben Pensionsberechtigte, deren Pension und übrige Einkünfte nicht die Höhe eines in diesen Regelwerken vorgegebenen Richtsatzes erreichen, einen Anspruch auf eine Ausgleichszulage in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen Richtsatz und individuellem Einkommen. Dieser Anspruch soll allerdings nur bestehen, solange Pensionsberechtigte ihren rechtmäßigen, regelmäßigen Aufenthalt in Österreich haben. Nach § 51 NAG sind allerdings wirtschaftlich nicht aktive Unionsbürger eines anderen Mitgliedstaates zum Aufenthalt von mehr als drei Monaten nur berechtigt, soweit diese für sich und ihre Familienangehörige über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen. Mit vorstehenden Regelungen sollte in Österreich Art. 7 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2004/38 EG umgesetzt werden. Diese Regelung erlaubt es den Mitgliedstaaten, das Aufenthaltsrecht von wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürgern anderer Mitgliedstaaten davon abhängig zu machen, dass diese über ausreichende Existenzmittel verfügen: „Artikel 7 Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate (1) Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er a) Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder b) für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen…“ 10 Bundesgesetz über die Niederlassung und den Aufenthalt in Österreich (Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz – NAG) StF: BGBl. I Nr. 100/2005, online abrufbar unter: http://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=1&ved=0CD4QFjAA&url=http%3A%2F% 2Fwww.unhcr.de%2Fno_cache%2Frecht%2Fi4-asyl-in-oesterreich%2F41-oesterreichsgeset - ze.html%3Fcid%3D3193%26did%3D7165%26sechash%3D1a595f2b&ei=OhqXUtPfJMKVtQaBnYDICA&usg= AFQjCNGHMw6nqDDxhrFofsk_GB6W910_sA&bvm=bv.57155469,d.Yms Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 1/14 Seite 7 Wenig geklärt war bislang die Frage, in welchem Verhältnis vorstehende Regelung zu dem in Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit11 (VO 883/2004) normierten grundsätzlichen Gebot der Gleichbehandlung von staatsangehörigen und nicht staatsangehörigen Unionsbürgern steht. Die Europäische Kommission hatte in dem vorliegend analysierten Vorabentscheidungsverfahren die Auffassung vertreten, dass jeder Unionsbürger , für den die VO 883/2004 Anwendung finde, nach Art. 70 Abs. 4 dieser Verordnung Anspruch auf Zahlung von beitragsunabhängigen Geldleistungen in seinem Wohnsitzmitgliedstaat habe und das daher Regelungen des Wohnsitzmitgliedstaates, die derartige Geldleistungen von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts abhängig machten, als „eine gegen Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004verstoßende mittelbare Diskriminierung“ zu werten seien.12 In zeitlicher Hinsicht erlangt die VO 883/2004/EG erst mit Inkrafttreten der Durchführungsverordnung Geltung (Art. 91 VO 883/2004/EG). Diese Durchführungsverordnung - die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit13 - ist am 1. Mai 2010 in Kraft getreten (Art. 97 VO 987/2009). Auch beitragsunabhängige Sozialleistungen wie die Ausgleichzulage nach österreichischem ASVG unterfallen dem sachlichen Geltungsbereich14 dieser Verordnung. Die VO 883/2004/EG findet nach Art. 3 Abs. 3 und Art. 70 VO 883/2004/EG auf beitragsunabhängige Geldleistungen Anwendung, „die aufgrund ihres persönlichen Geltungsbereichs, ihrer Ziele und/oder ihrer Anspruchsvoraussetzungen sowohl Merkmale der in Artikel 3 Abs. 1 genannten Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit als auch Merkmale der Sozialhilfe aufweisen.“ (Art. 70 Abs. 1 VO 883/2004/EG). Diese Verordnung findet mithin auf die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen nach Art. 70 VO 883/2004/EG Anwendung; die Ausgleichszulage nach dem ASVG ist - wie auch die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts der Grundsicherung für Arbeitsuchende - im Anhang X, auf die Art. 70 Abs.2 lit. c VO 883/2004/EG verweist, unter Österreich bzw. Deutschland lit. b) der Verordnung aufgeführt. Der persönliche Geltungsbereich der Verordnung umfasst u.a. alle Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates (Art. 2 Abs. 1 VO 883/2004/EG)15. 11 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl. 166/1, online abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2004:166:0001:0123:de:PDF 12 EuGH, 19.09.2013, C-140/12 Rdn. 37 13 ABl. L 284 vom 30.10.2009, S. 1., online abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2009:284:0001:0042:DE:PDF 14 So auch LSG Hessen, 14.07.2011, L 7 AS 107/11 B ER; Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, VO (EG) Nr. 883/2004. Europäische Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, Kommentar, 2012, Art. 70 Rdn. 35. 15 Zum persönlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung im Vergleich zur Vorgängerregelung vgl. Fischer, Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in Europa, 2008, S. 35 ff. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 1/14 Seite 8 Zum Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO 883/2004/EG Art. 4 VO 883/2004 normiert einen grundsätzlichen Gleichbehandlungsanspruch von staatsangehörigen und nicht staatsangehörigen Unionsbürgern. Personen, für die diese Verordnung gilt, haben die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates. Art. 3 Abs. 3 VO 883/2004 erweitert den Anwendungsbereich dieser Verordnung auf beitragsunabhängige Sozialleistungen. Nach Art. 4 VO 883/2004/EG haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates wie die Staatsangehörigen dieses Staates. Diese Norm konkretisiert das primärrechtliche Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV) für das koordinierende Sozialrecht. Der Wortlaut des Art. 4 VO 883/2004/EG legt nahe, Unionsbürgern anderer Mitgliedstaaten unter den gleichen Bedingungen wie österreichischen Staatsangehörigen eine Ausgleichszulage nach dem ASVG zu gewähren. Art. 4 VO 883/2004/EG verbietet jegliche Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit. Sie fordert die Gleichbehandlung von Unionsbürgern mit ausländischer Staatsangehörigkeit mit inländischen Staatsangehörigen (sog. Inländergleichbehandlung).16 Untersagt sind alle Formen der direkten Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Verboten sind aber auch mittelbare Diskriminierungen insb. in der Form, dass Regelungen eines EU-Mitgliedstaates nicht an die Staatsangehörigkeit Rechtsfolgen knüpfen, im Wesentlichen sich aber ausschließlich oder ganz überwiegend für EU-Ausländer nachteilig auswirken.17 Ein Leistungsausschluss von EU- Ausländern, so wie ihn § 292 ASVG vorsieht, scheint auf den ersten Blick, stellt man allein auf den Wortlaut des Art. 4 VO 883/2004/EG ab, gegen Art. 4 VO 883/2004/EG zu verstoßen. Der EuGH zieht diese Folgerung nicht. Aus den unterschiedlichen Zielsetzungen der VO 883/2004 und der Richtlinie 2004/38 EG folgert er, dass die VO 883/2004 zwar allen Unionsbürgern bei Ausübung ihres Freizügigkeitsrechts die Beibehaltung der in ihrem Ursprungsland gewährten Ansprüche auf bestimmte Sozialleistungen garantieren soll, es aber die Richtlinie 2004/38 EG ihrerseits dem Aufnahmestaat erlaube, „Unionsbürgern, wenn sie die Arbeitnehmereigenschaft nicht oder nicht mehr besitzen, rechtmäßige Beschränkungen in Bezug auf die Gewährung von Sozialleistungen aufzuerlegen, damit diese die Sozialhilfeleistungen dieses Staates nicht unangemessen in Anspruch nehmen.“18 Aufgrund dieser Abgrenzung des Anwendungsbereichs beider Regelungen folgte die Europarechtswidrigkeit des § 292 ASVG nicht schon daraus, dass die Versagung einer Ausgleichszulage für wirtschaftlich nicht aktive Unionsbürger eines anderen Mitgliedstaates bei einem Aufenthalt von mehr als drei Monaten, wenn diese nicht über 16 Otting, in: Eichenhofer (Hrsg.), Sozialrecht der Europäischen Union, Art. 4 Rdn. 1, 7 17 Dern, in: Schreiber/Wunder/Dern, VO (EG) Nr. 883/2004, 2012, Art. 4 Rdn. 5 f.; Otting, in: Eichenhofer (Hrsg.), Sozialrecht der Europäischen Union, Art. 4 Rdn. 10 18 EuGH, 19.09.2013, C-140/12 Rdn. 57 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 1/14 Seite 9 ausreichende Existenzmittel verfügen, mit dem Gleichheitsgebot des Art. 4 VO 883/2004/EG unvereinbar wäre. Schranken für die Begrenzung des Freizügigkeitsrechts Der EuGH entnimmt der Richtlinie 2004/38 EG eine Beschränkung der durch in Art. 7 Abs. 1 lit. b) Richtlinie 2004/38 EG den Mitgliedstaaten eröffneten Möglichkeit, das Freizügigkeitsrecht von wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürgern bei Fehlen ausreichender Existenzmittel zu beschränken . Folgende Gründe sollen eine derartige Begrenzung der durch Art. 7 Abs. 1 lit. b) Richtlinie 2004/38 EG eröffneten Beschränkungsmöglichkeit von Sozialhilfeleistungen erfordern: Der EuGH entnimmt dem zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 EG, dass vorstehende Beschränkungsmöglichkeit eine unangemessene Inanspruchnahme von Sozialleistungen des Aufnahmemitgliedstaates verhindern solle.19 Die Wahrnehmung des Aufenthaltsrechts von Unionsbürgern könne von der Wahrnehmung berechtigter Interessen der Mitgliedstaaten – insb. mit Blick auf den Schutz ihrer öffentlichen Finanzen – abhängig gemacht werden.20 Art. 14 Abs. 3 Richtlinie 2004/38 EG sei zu entnehmen, dass die Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch Unionsbürger nicht automatisch zu einer Ausweisung führen dürfe .21 Art. 8 Abs. 4 Satz 1 Richtlinie 2004/38 EG untersage es den Mitgliedstaaten, einen festen Betrag für Existenzmittel als ausreichende Bedarfsbefriedigung festzulegen. Vielmehr müsse dabei die persönliche Situation des Betroffenen berücksichtigt werden.22 Nach dem sechzehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 EG müsse der Aufnahmemitgliedstaat bei der Beurteilung der Frage, ob ein Sozialhilfeempfänger seine Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen dürfe, prüfen, ob vorübergehenden Schwierigkeiten des Betroffenen abgeholfen werden soll. Zu berücksichtigen sei auch die Dauer des Aufenthalts , die persönlichen Umstände des Betroffenen und der ihm gewährte Sozialhilfebetrag , bevor der Aufnahmemitgliedstaat Antragsteller ausweist.23 Schließlich weist der EuGH darauf hin, dass das Freizügigkeitsrecht als grundlegendes Prinzip des Unionsrechts als Grundregel gelte, von dem die in Art. 7 Abs. 1 lit. b) Richtlinie 2004/38 EG normierten Voraussetzungen eng, namentlich unter Einhaltung der vom 19 EuGH, 19.09.2013, C-140/12 Rdn. 54 20 EuGH, 19.09.2013, C-140/12 Rdn. 55 21 EuGH, 19.09.2013, C-140/12 Rdn. 66 22 EuGH, 19.09.2013, C-140/12 Rdn. 67 23 EuGH, 19.09.2013, C-140/12 Rdn. 69 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 1/14 Seite 10 Unionsrecht vorgegebenen Grenzen sowie nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auszulegen seien.24 Der in Art. 7 Abs. 1 lit. b Richtlinie 2004/38 EG verwandte Begriff der „Sozialhilfeleistungen“ soll daher nicht nach formalen Kriterien sondern anhand dieser Regelungsziele bestimmt werden . Nach Ansicht des EuGH folge mithin nicht bereits aus der Klassifizierung einer staatlichen Leistung als „Sozialhilfeleistung“ die Beschränkungsmöglichkeit nach Art. 7 Abs. 1 lit. b Richtlinie 2004/38 EG. Hinzukommen müsse eine „umfassende Beurteilung“ der Sachlage, „welche Belastung dem nationalen Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit aus der Gewährung dieser Leistung nach Maßgabe der individuellen Umstände, die für die Lage des Betroffenen kennzeichnend sind, konkret entstünde.“25 Daraus wiederum folgert der EuGH im vorliegenden Vorabentscheidungsverfahren, „dass ein solcher automatischer Ausschluss der wirtschaftlich nicht aktiven Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten von der Gewährung einer bestimmten Sozialhilfeleistung durch den Aufnahmemitgliedstaat selbst für die in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 genannte Zeit nach einem dreimonatigen Aufenthalt es den zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats nicht erlaubt, im Einklang mit den Anforderungen, die sich insbesondere aus den Art. 7 Abs. 1 Buchst. b und 8 Abs. 4 dieser Richtlinie sowie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben, in Fällen, in denen die Existenzmittel des Betroffenen geringer sind als der Richtsatz für die Gewährung dieser Leistung, eine umfassende Beurteilung der Frage vorzunehmen, welche Belastung die Gewährung dieser Leistung nach Maßgabe der die Lage des Betroffenen kennzeichnenden individuellen Umstände konkret für das gesamte Sozialhilfesystem darstellen würde.“ Nach diesem Prüfungsmaßstab soll es für die Beschränkungsmöglichkeit nach Art. 7 Abs. 1 lit. b) Richtlinie 2004/38 EG von Bedeutung sein, den Anteil der Personen zu ermitteln, die Unionsbürger und Empfänger der jeweils in Frage stehenden Sozialhilfeleistungen in einem anderen Mitgliedstaat sind.26 24 EuGH, 19.09.2013, C-140/12 Rdn. 70 25 EuGH, 19.09.2013, C-140/12 Rdn 64 26 EuGH, 19.09.2013, C-140/12 Rdn 78 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 1/14 Seite 11 3. Europarechtliche Maßstäbe zur Präzisierung und Begrenzung von Anspruchsvoraussetzungen und für Leistungsausschlüsse in der Grundsicherung für Arbeitsuchende mit Blick auf die Entscheidung des EuGH vom 19. September 2013 3.1. Zur rechtspolitischen Diskussion der Neuregelung der Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen durch Unionsbürger aus anderen Mitgliedstaaten In jüngerer Zeit werden verstärkt politische Forderungen nach gesetzlicher Präzisierung der Ausübung des Freizügigkeitsrechts erhoben, insb. eine Klarstellung eingefordert, dass der Aufenthalt von Unionsbürgern aus anderen Mitgliedstaaten von ausreichenden Existenzmittel abhängig sei. Ausgehend von der Zielsetzung, „der ungerechtfertigten Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch EU-Bürger“ entgegenwirken zu wollen, sieht der von CDU, CSU und SPD vereinbarte Koalitionsvertrag eine Anpassung der Grundsicherung für Arbeitsuchende an die Vorgaben der Entscheidung des EuGH vom 19. September 2013 vor.27 „Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sollen Anspruchsvoraussetzungen und Leistungsausschlüsse in der Grundsicherung für Arbeitsuchende präzisiert werden.“ Im Vorfeld dazu hatte der Deutsche Städtetag in seinem Positionspapier „…zu den Fragen der Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien“ vom 22. Januar 2013 an den Bund u.a. die Forderung gerichtet, Durchsetzungsmöglichkeiten für die bestehende Krankenversicherungspflicht und das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel als Voraussetzung der Freizügigkeit zu schaffen und entsprechende Klarstellungen im Leistungsrecht des SGB II, SGB XII und Asylbewerberleistungsgesetz vorzunehmen.28 3.2. Europarechtliche Gestaltungsgrenzen zur Begrenzung und für den Ausschluss von Grundsicherungsleistungen für Unionsbürger anderer Mitgliedstaaten 3.2.1 Die dafür maßgebenden Zeiträume und der für diese unionsrechtlich definierte Aufenthaltsstatus von Unionsbürgern in den Aufnahmemitgliedstaaten Nach Art. 6 Richtlinie 2004/38 EG haben Unionsbürger und ihre Familienangehörigen für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten ein Aufenthaltsrecht im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates ; danach sollen sie nach Art. 14 Abs. 1 Richtlinie 2004/38 EG ein Aufenthaltsrecht nur haben, „solange sie die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmestaates nicht unangemessen in Anspruch nehmen.“ Nach Art. 7, 14 Abs. 2 Richtlinie 2004/38 EG hat jeder Unionsbürger das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates für mehr als drei Monate, sofern er Arbeitnehmer 27 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD 18. Legislaturperiode S. 108 28 Deutscher Städtetag, Positionspapier der Deutschen Städtetages zu den Fragen der Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien vom 22.01.2013, online abrufbar unter: http://www.staedtetag.de/imperia/md/content/dst/internet/fachinformationen/2013/positionspapier_zuwander ung_2013.pdf Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 1/14 Seite 12 oder Selbständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist. Gleiches gilt, wenn er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen. Außerdem muss ein aufenthaltsberechtigter Unionsbürger für sich und für seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen. Unionsbürger , die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, halten sich im Aufnahmemitgliedstaat nach Art. 7 Abs. 1 lit. a), b) Richtlinie 2004/38 EG unberechtigt auf. Arbeitsuchende gelten nach der Richtlinie 2004/38 EG nicht als Arbeitnehmer. Die Richtlinie 2004/38 EG behandelt Arbeitnehmer, Selbständige und Arbeitsuchende als eigenständige Gruppen und will dafür gesondert das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt ausgestalten. Nach dem Erwägungsgrund 3 der Richtlinie 2004/38 EG sollte die Unionsbürgerschaft „der grundsätzliche Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten sein. Daher müssen die bestehenden Gemeinschaftsinstrumente, die Arbeitnehmer und Selbstständige sowie Studierende und andere beschäftigungslose Personen getrennt behandeln, kodifiziert und überarbeitet werden, um das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht aller Unionsbürger zu vereinfachen und zu verstärken.“ Auch der Erwägungsgrund 16 differenziert hinsichtlich der Frage, ob Unionsbürger, die Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen, ausgewiesen werden dürften, zwischen Arbeitnehmern , Selbständigen und Arbeitsuchenden. Art. 14 Abs. 4 Richtlinie 2004/38 EG differenziert hinsichtlich des dort normierten Schutzes von Unionsbürgern und ihrer Familienangehörigen vor Ausweisung zwischen Arbeitnehmern , Selbständigen und Arbeitsuchenden. Nach Art. 6 Richtlinie 2004/38 EG haben Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates in den ersten drei Monaten; die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts knüpft Art. 14 Abs. 1 Richtlinie 2004/38 EG daran, dass Unionsbürger und ihre Familienangehörige die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaates nicht unangemessen in Anspruch nehmen.29 Mit Blick auf den Erwägungsgrund zehn dieser Richtlinie soll dies allerdings als Bedingung für das Aufenthaltsrecht von Unionsbürgern und ihrer Familienangehörigen für eine Dauer von mehr als drei Monaten zu verstehen sein. Nach Art. 7 Abs. 1 lit. a) Richtlinie 2004/38 EG wird das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates für Arbeitnehmer und Selbstständige für mehr als drei Monate vorbehaltlos gewährt, während anderen Unionsbürgern dieses Aufenthaltsrecht nur zustehen soll, soweit sie über ausreichende Existenzmittel verfügen und insb. keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaates in Anspruch nehmen müssen. Die Eigenschaft eines Erwerbstätigen und damit das daraus abgeleitete Aufenthaltsrecht bleibt Arbeitnehmern unter den in Art. 7 Abs. 3 Richtlinie 2004/38 EG genannten Voraussetzungen erhalten, wenn diese eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger nicht mehr ausüben. Unionsbürger, die sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten und diese Voraussetzungen nicht erfüllen, halten sich dort unberechtigt auf. Unionsbürger, die in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaates eingereist sind, um Arbeit zu suchen, genießen neben ihren Familienangehörigen zudem nach Art. 29 Dazu näher EuGH, 21.12.2011, C-424/10 u.a. Rdn. 39. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 1/14 Seite 13 14 Abs. 4 lit. b) Richtlinie 2004/38 EG einen Ausweisungsschutz, solange sie nachweisen können , dass sie weiterhin Arbeit suchen und dass sie eine begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden. 3.2.2. Europarechtliche Spielräume zur Begrenzung von Grundsicherungsleistungen für Unionsbürger aus einem anderen Mitgliedstaat mit Blick auf den Aufenthaltsstatus im Aufnahmemitgliedstaat Bei einem Aufenthaltsrecht von bis zu drei Monaten In den ersten drei Monaten des Aufenthalts wird das Aufenthaltsrecht von Unionbürgern in einem anderen Mitgliedstaat vorbehaltlos gewährt. Art. 6 Richtlinie 2004/38 EG verlangt für Aufenthalte innerhalb dieses Zeitraums lediglich den Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses.30 Auch mit Blick auf das Bestehen eines Aufenthaltsrechts von Unionsbürgern in den ersten drei Monaten sind nach Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38 EG Mitgliedstaaten nicht dazu verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts u.a. einen Anspruch auf „Sozialhilfe“ zu gewähren. Diese Beschränkungsmöglichkeit besteht nur für Personen, die nicht Arbeitnehmer oder Selbständige i.S.d. Richtlinie sind. Sie gilt auch nicht für Personen, denen ein solcher Status erhalten bleibt und für Familienangehörige dieses Personenkreises. Dieser Personenkreis ist nach Art. 24 Abs. 1 Richtlinie 2004/38 EG mit den Staatsangehörigen der Aufnahmemitgliedstaates gleich zu behandeln. Diese können insb. Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II unter den gleichen Bedingungen wie deutsche Staatsangehörige erhalten. Da Unionsbürger innerhalb der ersten drei Monate ein Aufenthaltsrecht in einem anderen Mitgliedstaat haben, stellte sich für diese Problemstellung nicht die jüngst vom Landessozialgericht Nordrhein- Westfalen aufgeworfene Frage, ob der Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II für Unionsbürger aus anderen Mitgliedstaaten keine Anwendung findet, soweit diese sich ohne Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet aufhalten.31 Die Einschränkung vom Gleichbehandlungsgebot gilt auch nur für den Anspruch auf Sozialhilfe. Sehr umstritten ist allerdings die Frage, ob die Grundsicherung für Arbeitsuchende als Sozialhilfe i.S.d. Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38 EG qualifiziert werden kann.32 30 dazu näher EuGH, 21.12.2011, C-424/10 u.a. Rdn. 39; BVerwG, 13.07.2010, 1 C 14/09 31 LSG NRW, 10.10.2013, L 19 AS 129/13 32 Vgl. dazu der Überblick zum Streitstand bei Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union, Rdn. 259; Frings, Grundsicherung für Arbeitsuchende und Migration: Einschlüsse und Ausschlüsse nach der Staatsangehörigkeit und dem Aufenthaltsstatus, in: Kurth (Hrsg.), Arbeitsmigration und Integrationspolitik – zur notwendigen Verknüpfung zweier Politikfelder, 2010, S. 23 ( 30 f.); Kingreen, Soziale Rechte und Migration, 2010, S. 68 ff.; Stewen , Die Entwicklung des allgemeinen Freizügigkeitsrechts und der Unionsbürger und seiner sozialen Begleitrechte , 2011, S. 193 f., 206 f. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 1/14 Seite 14 Der EuGH hat auf Vorlage des Sozialgerichts Nürnberg mit Urteil vom 4. Juni 200933 in der Rechtssache Vatsouras/ Koupatanze gegen Arbeitsgemeinschaft (ARGE) Nürnberg sich mit der Frage befasst, ob ein Ausschluss von Unionsbürgern von Leistungen nach dem SGB II auf Art. 24 Abs. 2 Unionsbürgerrichtlinie gestützt werden kann. Dafür ist entscheidend, ob die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II als Sozialhilfe i.S.d. Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38 EG qualifiziert werden kann. Dies festzustellen ist nach Ansicht des EuGH Aufgabe der nationalen Behörden und Gerichte. Zur Auslegung des nationalen Rechts mit Blick auf diese Richtlinie gibt das Gericht folgende Hinweise: Für die Feststellung, ob eine Leistung als Sozialhilfe i.S.d. Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG gelte, sei auf den Zweck der Leistung und nicht auf ihre „formale Struktur“ abzustellen. Es sieht es als legitim an, „dass ein Mitgliedstaat eine solche Beihilfe erst gewährt, nachdem das Bestehen einer tatsächlichen Verbindung des Arbeitsuchenden mit dem Arbeitsmarkt dieses Staates festgestellt wurde. …Eine Voraussetzung wie die in § 7 Abs. 1 SGB II enthaltene, wonach der Betroffene erwerbsfähig sein muss, könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Leistung den Zugang zur Beschäftigung erleichtern soll....Finanzielle Leistungen , die unabhängig von ihrer Einstufung nach nationalem Recht den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, können nicht als „Sozialhilfeleistungen“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38 angesehen werden.“ Daraus wird vielfach abgeleitet, dass Leistungen nach dem SGB II nicht als Sozialhilfeleistung nach dieser Regelung qualifiziert werden könnten.34 Auch das Bundessozialgericht meldet hieran Zweifel an, lässt dies aber in seiner Entscheidung vom 30. Januar 2013 offen.35 Möglicherweise ist die Entscheidung des EuGH vom 4. Juni 2009 mit Blick darauf, dass sie finanzielle Leistungen , die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, nicht als Sozialhilfeleistungen i.S.d. Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38 EG wertet, dahin zu interpretieren, dass innerhalb des Leistungssystems des SGB II nur solche Leistungen nicht als Sozialhilfe anzusehen sind, die auf die Integration in den Arbeitsmarkt abzielen.36 Im Schrifttum wird von diesem Ausgangspunkt für das Leistungssystem des SGB II aus der Entscheidung Vatsouras/Koupatanze gegen ARGE Nürnberg der Schluss gezogen, dass das Arbeitslosengeld II (§ 19 SGB II) mit Blick auf seinen eher existenzsichernden Charakter als Sozialhilfe i.S.d. Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38 EG angesehen werden könne und lediglich Leistungen des SGB II, die – wie die in §§ 14, 16 SGB II vorgesehenen Leistungen – der Eingliederung in Arbeit dienen, vom Anwendungsbereich des Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38 EG ausgenommen wären.37 Diese Differenzierung ließe sich darauf stützen, dass § 1 Abs. 3 SGB II explizit zwischen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts 33 EuGH, Urteil vom 4. Juni 2009, C-22/08 und C- 23/08 34 Stewen, Die Entwicklung des allgemeinen Freizügigkeitsrechts und der Unionsbürger und seiner sozialen Begleitrechte , S. 193; ein Teil des Schrifttums interpretiert diese Entscheidung dahin, dass der EuGH den Ausschluss von arbeitsuchenden Unionsbürgern nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II gebilligt habe; so Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union, Rdn. 259 35 BSG, Urteil vom 30. Januar 2013, B 4 AS 54/12 R 36 Kingreen, Soziale Rechte und Migration, S. 69 37 Hailbronner, Ansprüche nicht erwerbstätiger Unionsbürger auf gleichen Zugang zu sozialen Leistungen, ZFSH/SGB 2009, S. 195 ( 200 ff.); Kingreen, Soziale Rechte und Migration, S. 69 (70); Hofmann, Kummer, ZESAR 2013, S. 199 (202); Schreiber, Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II auf dem gemeinschaftsrechtlichen Prüfstand, info also 2009, S. 195 (196). Diese Auffassung vertreten auch Teile der sozialgerichtlichen Rechtsprechung; vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 8.06.2009, L 34 AS 790/09 B ER. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 1/14 Seite 15 und Leistungen zur Eingliederung in Arbeit unterscheidet.38 Gegen die Qualifizierung der Grundsicherung für Arbeitsuchende als Sozialhilfeleistung i.S.d. Richtlinie 2004/38 EG wird, auch soweit dies die passiven Leistungen des SGB II betrifft, eingewandt, dass in Art. 70 VO 883/2004 beitragsunabhängige Sonderleistungen geregelt werden. Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II sind im Anhang X zu Deutschland lit. b) der VO 883/2004 als beitragsunabhängige Geldleistungen ausgewiesen.39 Da diese als eigenständige Leistungskategorie im Rahmen der VO 883/2004 von den beitragsabhängigen Leistungen der sozialen Sicherheit nach Art. 3 Abs. 1 der Verordnung und von der Sozialhilfe hervorgehoben wird, könnte daraus geschlossen werden, dass die Grundsicherung für Arbeitsuchende auch im Rahmen der Richtlinie 2004/38 EG nicht als Sozialhilfe gelten könne.40 Dieser Schluss ist allerdings nicht zwingend, da es im Europarecht keinen allgemein anerkannten Auslegungsgrundsatz gibt, der forderte, dass in einem Sekundärrechtsakt verwandte Begriffe Allgemeingültigkeit auch für andere Regelwerke des Europarechts beanspruchen. Es ist daher zumindest nicht zwingend, dass der Begriff der Sozialhilfe in der Richtlinie 2004/38 EG und in der VO 883/2004 in gleicher Weise auszulegen ist. Zu dieser Frage bezieht auch Generalanwalt Nils Wahl in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Brey gegen Pensionsversicherungsanstalt41 Stellung: „Im Allgemeinen sollten Begriffe des Unionsrechts einheitlich ausgelegt werden, da dies zu größerer Rechtssicherheit beiträgt. Doch ist in der Praxis eine einheitliche Auslegung nicht immer möglich. Im vorliegenden Fall kommen die Beteiligten vor dem Gerichtshof bezüglich des in der Richtlinie enthaltenen Begriffs der Sozialhilfeleistung dadurch zu entgegengesetzten Ergebnissen, dass sie ihn im Licht verschiedener anderer Sekundärrechtsakte auslegen. Angesichts der Unterschiedlichkeit dieser Rechtsakte liegt es auf der Hand, dass der Begriff der Sozialhilfeleistung, wie er in diesen verschiedenen Zusammenhängen verwendet wird, nicht denselben Inhalt haben kann….“42 In gleicher Weise will der EuGH den Begriff der Sozialhilfeleistungen im Sinne von Art. 7 Abs. 1 lit b) Richtlinie 2004/38 EG nicht anhand formaler Kriterien, sondern anhand der Regelungsziele 38 Ein Teil des sozialrechtlichen Schrifttums hält hingegen die Unterscheidung, ob es sich bei den im SGB II vorgesehenen Leistungen zur Eingliederung in Arbeit einerseits und Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts andererseits um Sozialhilfe i.S.d. Freizügigkeitsrichtlinie handelt, wegen der engen Verknüpfung dieser Leistung, wie die sanktionsrechtlichen Regelungen in §§ 31 f. SGB II zeigten, und mit Blick darauf, dass alle Leistungen des SGB II die Erwerbsfähigkeit des Leistungsempfängers voraussetzen, nicht für möglich; so Mergler , in: Zink-Gerenkamp, SGB II, § 7 Rdn. 13c; Eicher/Spellbrink, § 7, SGB II, Rdn. 18. 39 Anhang X der VO 883/2004. Besondere beitragsunabhängige Geldleistungen (Artikel 70 Absatz 2 Buchstabe c)). Zu Deutschland werden unter b) „Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts der Grundsicherung für Arbeitsuchende , soweit für diese Leistungen nicht dem Grunde nach die Voraussetzungen für den befristeten Zuschlag nach Bezug von Arbeitslosengeld (§ 24 Absatz 1 des Zweiten Buche Sozialgesetzbuch) erfüllt sind“, ausgewiesen ; Online abrufbar unter: http://www.dvka.de/oeffentlicheseiten/pdf- Dateien/EWGVerordnungen/VO_883_2004.pdf 40 Geiser/Kador, SGb 2013, S. 608 (609) 41 Zu diesem Verfahren vgl oben unter 2. 42 Schlussanträge Rs C-140/12 Rdn. 34, online abrufbar unter: http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=137784&pageIndex=0&doclang=DE&mode=lst &dir=&occ=first&part=1&cid=583638 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 1/14 Seite 16 dieser Norm bestimmen.43 Der Begriff „Sozialhilfeleistungen solle sich auf die sozialen Fürsorgeleistungen beschränken, für die die VO 883/2004 nach Art. 3 Abs. 5 a) VO 883/2004 keine Anwendung findet.44 Vielmehr sei der Begriff Sozialhilfeleistungen im Sinne von Art. 7 Abs. 1 lit b) Richtlinie 2004/38 EG so zu verstehen, „… dass er sich auf sämtliche von öffentlichen Stellen eingerichteten Hilfssysteme bezieht , die auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene bestehen und die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt und deshalb während seines Aufenthalts möglicherweise die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats belasten muss, was Auswirkungen auf das gesamte Niveau der Beihilfe haben kann, die dieser Staat gewähren kann…“45 Von diesem weiten Verständnis des Begriffs der Sozialhilfe dürften nach hiesiger Einschätzung auch die Grundsicherung für Arbeitsuchende, zumindest die Passivleistungen des SGB II, umfasst sein. Durch die Hinweise und Bezugnahmen in dieser Entscheidung auf Art. 24 Richtlinie 2004/38 EG wird deutlich, dass dieses weite Verständnis von Sozialhilfe im Rahmen der Richtlinie 2004/38 EG sowohl für den Aufenthaltsstatus als auch für Leistungsrecht Geltung haben soll.46 Der Entscheidung des EuGH vom 19. September 2013 in der Rechtssache Pensionsversicherungsanstalt gegen Brey lassen sich keine Gründe entnehmen, auf die sich die vielfach angenommene Europarechtswidrigkeit des Ausschlusses von Leistungen nach dem SGB II nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2. SGB II für Unionsbürger, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, stützen ließe. Die Entscheidungsgründe dieses Urteils lassen sich dahin deuten, dass Grundsicherungsleistungen als Sozialhilfe nach Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38 EG gelten können, die nach dieser Bestimmung anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbständigen, diesen nach dieser Richtlinie gleichgestellten Personen und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate ihres Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat dort nicht gewährt werden müssen. Dieser von vorstehender Ausschlussoption betroffene Personenkreis ist weiter gezogen als in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2. SGB II, da er, wie insb. Erwägungsgrund 21 der Richtlinie 2004/38 EG verdeutlicht, alle wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürger umfasst , mithin nicht nur Arbeitsuchende. Für ein Aufenthaltsrecht von mehr als drei Monaten Für den Aufenthalt von mehr als drei Monaten gewährt die Richtlinie 2004/38 EG Arbeitnehmern und Selbstständigen die Freizügigkeit in einem anderen Mitgliedstaat vorbehaltlos, während anderen Unionsbürgern das Aufenthaltsrecht nur zustehen soll, soweit sie über ausreichende Existenzmittel verfügen und insb. keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaates in Anspruch nehmen müssen. 43 EuGH, 19.09.2013, Rs. C-140/12 Rdn. 60 44 EuGH, 19.09.2013, Rs. C-140/12 Rdn 58 45 EuGH, 19.09.2013, Rs. C-140/12 Rdn 61 46 Dies sieht das LSG NRW, 10.10.2013, L 19 AS 129/13 unter Bezugnahme auf die Entscheidung des EuGH vom 19.09.2013 anders, ohne dies aber anhand dieser Entscheidung näher darzulegen. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 1/14 Seite 17 Zur Frage, ob Sozialhilfeleistungen i.S.d. Art. 7 Richtlinie 2004/38 EG auch Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende umfassen, wurde bereits Stellung bezogen. Erwägungsgrund 10 der Richtlinie 2004/38 EG präzisiert den Status von Aufenthaltsberechtigten, die keine Arbeitnehmer oder Selbständige sind, dahin, dass diese „während Ausübung ihres ersten Aufenthalts die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmestaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Daher sollte das Aufenthaltsrecht von Unionsbürgern und ihrer Familienangehörigen für eine Dauer von über drei Monaten bestimmten Bedingungen unterliegen.“ Die Feststellung, dass wirtschaftlich nicht aktive Unionsbürger infolge nicht ausreichend vorhandener Existenzmittel Sozialhilfeleistungen des Aufnahmestaates unangemessen i.S.d. Richtlinie 2004/38 EG in Anspruch nehmen, dürften die zuständigen Behörden nach der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Pensionsversicherungsanstalt gegen Brey erst nach einer umfassenden Beurteilung der Frage treffen, welche Belastung dem nationalen Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit aus der Gewährung einer Sozialhilfeleistung unter Beachtung der individuellen, für die Lage des Betroffenen kennzeichnenden Umstände entstünde. Dieses zusätzliche Erfordernis, an der diese Entscheidung das Aufenthaltsrecht für einen über drei Monate währenden Aufenthalt nach Art. 7 Abs. 1 lit. b) Richtlinie 2004/38 EG festmacht, stützt der EuGH auf Art. 7 Abs. 1 lit. b) Richtlinie 2004/38 EG selbst, die allerdings die Belastung des Sozialsystems durch Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen nicht erkennen lässt, auf Art. 8 Abs. 4 Richtlinie 2004/38 EG und auf dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.47 Nach Art. 8 Abs. 4 Richtlinie 2004/38 EG dürfen die Mitgliedstaaten „keinen festen Betrag für die Existenzmittel festlegen, die sie als ausreichend betrachten, sondern müssen die persönliche Situation des Betroffenen berücksichtigen. Dieser Betrag darf in keinem Fall über dem Schwellenbetrag liegen, unter dem der Aufnahmemitgliedstaat seinen Staatsangehörigen Sozialhilfe gewährt, oder, wenn dieses Kriterium nicht anwendbar ist, über der Mindestrente der Sozialversicherung des Aufnahmemitgliedstaats .“ Der Erwägungsgrund 16 erachtet eine Prüfung für erforderlich, ob es sich bei dem betreffenden Fall um vorübergehende Schwierigkeiten handelt, und die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen Umstände und den gewährten Sozialhilfebetrag berücksichtigen, um zu beurteilen, ob der Leistungsempfänger die Sozialhilfeleistungen unangemessen in Anspruch genommen hat, und in diesem Fall seine Ausweisung zu veranlassen.“ Dass die Unangemessenheit der Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen ein eigenständiges, aufenthaltsstatusrelevantes Merkmal sein soll, verdeutlicht der Erwägungsgrund 16 der Richtlinie 2004/38 EG dadurch, indem er hervorhebt, dass an diesem Prüfungsmaßstab die Entscheidung darüber ausgerichtet sein soll, ob Unionsbürger aus dem Aufnahmestaat ausgewiesen werden können. Mit dem Hinweise auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dürfte der EuGH in seiner Entscheidung vom 19. September 2013 darauf abstellen, dass primärrechtlich die Freizügigkeit, soweit dies nicht die nach Art. 45 AEUV vorbehaltlos gewährte Arbeitnehmerfreizügigkeit betrifft, Beschränkungen unterliegt und an Bedingungen geknüpft werden darf, die das Aufenthaltsrecht von Unionsbürgern mit der Wahrung berechtigter Interessen den Mitgliedstaaten in Einklang bringen wollen.48 Mit 47 EuGH, 19.09.2013, Rs. C-140/12 Rdn. 77 48 Dazu bereits oben unter 1. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 1/14 Seite 18 dieser Entscheidung wird die Belastbarkeit des nationalen Sozialhilfesystems als ein für diese Abwägung relevantes Interesse der Mitgliedstaaten anerkannt. 3.2.3. Zu den sich daraus ergebenden Gestaltungsmöglichkeiten für eine Zugangssteuerung zu Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende für Unionsbürger aus anderen Mitgliedstaaten Soweit sich Leistungen des SGB II als Sozialhilfe i.S.d. Richtlinie 2004/38 EG qualifizieren lassen , steht es den Mitgliedstaaten nach Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38 EG frei, diese in den ersten drei Monaten wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürgern aus anderen Mitgliedstaaten nicht zu gewähren. Aus Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38 EG folgt daraus im Umkehrschluss, dass mit Ablauf dieser Dreimonatsfrist auch diesem Personenkreis diese Leistungen zu gewähren sind. Dies gilt allerdings nur für Unionsbürger, die sich „aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats“ aufhalten (Art. 24 Abs. 1 Satz 1 Richtlinie 2004/38 EG), mithin auf Grundlage dieser Richtlinie ein Aufenthaltsrecht für sich geltend machen können. Ein Recht auf Aufenthalt für einen Zeitraum von mehr als drei Monaten haben wirtschaftlich nicht aktive Unionsbürger nicht mehr uneingeschränkt, insb. dann nicht, wenn sie für sich und ihre Familienangehörigen nicht über ausreichende Existenzmittel verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen (Art. 7 Abs. 1 lit. b) Richtlinie 2004/38 EG). Demgemäß erachtet der EuGH in seiner Entscheidung vom 19. September 2013 den Ausschluss einer als Sozialhilfe im Sinne dieser Richtlinie anzusehenden Leistung auch über diesen Dreimonatszeitraum grundsätzlich für richtlinienkonform, stellt hierfür aber hohe Anforderungen auf. Ein Leistungsausschluss soll möglich sein, soweit die persönliche Lebenssituation von Antragstellern hinreichend gewürdigt wird und sich die Inanspruchnahme der begehrten Leistung als eine „unangemessene Belastung des nationalen Sozialhilfesystems“ erweist.49 Mit dem letztgenannten Erfordernis für den Leistungsausschluss über den Zeitraum von drei Monaten statuiert der EuGH eine dafür nur schwer zu überwindende Hürde. Mitgliedstaaten müssten, um dem gerecht zu werden, darstellen, welche Belastungen sich aus der Leistung, die sie ausschließen wollen , für das nationale Sozialsystem ergeben würde. Dabei soll es von Bedeutung sein, „den Anteil derjenigen Empfänger dieser Leistung zu ermitteln, die Unionsbürger und Empfänger“ der fraglichen Leistung in einem anderen Mitgliedstaat sind.50 „In Fällen, in denen die Existenzmittel des Betroffenen geringer sind als der Richtsatz für die Gewährung einer Leistung“, müsse zudem „eine umfassende Beurteilung der Frage“ vorgenommen werden, „welche Belastungen die Gewährung dieser Leistung nach Maßgabe der die Lage des Betroffenen kennzeichnenden individuellen Umstände konkret für das gesamte Sozialhilfesystem darstellen würde.“51 - Fachbereich Europa - 49 EuGH, 19.09.2013, Rs. C-140/12 Rdn. 79 50 EuGH, 19.09.2013, Rs. C-140/12 Rdn. 78 51 EuGH, 19.09.2013, Rs. C-140/12 Rdn. 77